Warum der Irak geteilt bleibt
Seit Monaten herrscht im Irak eine merkwürdige Ruhe. Seit der Daesh (Islamischer Staat) grosse Teile der Provinz Anbar erobert hat, haben sich die Fronten weitgehend verfestigt. Alle drei Kontrahenten – Kurden. Daesh und die Regierung – leiden unter dem gleichen Problem: Geldmangel. Der Verfall der Erdölpreise hat sie massiv betroffen, da sie versäumt haben, sich alternative Geldquellen zu erschliessen.
Die Kurden schulden ihren Peshmerga-Kriegern seit Monaten den Sold. Der Daesh musste seine Sozialausgaben und die Stromversorgung drosseln, denn der Sold der Kämpfer hat Vorrang. Die Einkünfte aus Enteignung (Diebstahl) und Steuereintreibung (Erpressung) leiden unter der Wirtschaftskrise.
Obwohl alle Drei so viel Erdöl pumpen, wie sie nur können, reichen die royalties bzw. die Erlöse nicht. Die Regierung in Bagdad muss einen Kredit von 1,2 Milliarden Dollar beim Weltwährungsfonds aufnehmen – vorgeblich für den Wiederaufbau der Provinz Anbar, die sie nur teilweise beherrscht.
Für die derzeitige Starre der Frontlinien im Irak gibt es zwei einfache und eine komplizierte Erklärung. Die einfachen Gründe: sowohl die Kurden als auch die Fanatiker des IS sind gegenwärtig zu schwach, um grössere Offensiven zu starten. Dem Daesh setzen die Luftangriffe merklich zu. Ein Teil des Spitzenpersonals hat sich von Rakka nach Mossul und nach Libyen abgesetzt. Die Türkei ist nicht mehr der nette Verbündete, über den man Freiwillige, Bräute und Rüstungsgüter bezieht, und in dessen Krankenhäusern man seine Verwundeten behandeln lassen kann. Verteidigung ist für den Daesh in Syrien und Irak an die Stelle von Angriff getreten. Erfolge erzielt man stattdessen in Libyen und auf dem Sinai.
Warum die Regierung in Bagdad keine ernsthaften Versuche unternimmt, die an den Daesh und die Kurden verlorenen Gebiete zurück zu gewinnen, ist eine komplizierte Frage. Der vom Daesh beherrschte Norden einschiesslich der Millionenstadt Mossul ist sunnitisches Siedlungsgebiet. Weder die in Bagdad vertretenen sunnitischen Parteien, noch ihre amerikanischen Freunde wollen, dass das besetzte sunnitische Gebiet von schiitisch dominiertem Militär oder von den mit Iran verbündeten schiitischen Milizen “befreit” wird. Zu schrecklich ist die Erinnerung an frühere “Befreiungs”.Aktionen der Milizen, bei denen hemmungslos gemordet und gestohlen wurde.
Die Amerikaner wollen verhindern, dass der sunnitisch geprägte Nordirak den Schiiten und ihren iranischen Freunden anheim fällt. Sie wollen im Prinzip den Daesh als ein sunnitisches Staatswesen erhalten – freilich ohne den Kalifen und seine Mörderbande. Den Amerikanern liegt also nichts an einer Wiedererrichtung des alten Iraks, es sei denn als ein lockeres Gebilde bestehend aus einem schiitischen Süden, einem sunnitischen Norden und einem weitgehend autonomen Kurdistan.
Aus dieser Haltung der Amerikaner erklärt sich der Hass der Schiiten auf die vormalige und immer noch einflussreiche Besatzungsmacht. Militärisch gesehen, streben Kreise um den regierenden Premier Haider al-Abadi die Bildung einer gemischt schiitisch-sunnitischen Streitmacht an, der man die Befreiung anvertrauen könnte. Diese Idee lehnen sowohl hardcore Schiiten um den Ex-Premier Nouri al-Maliki, als auch die Sunniten ab.
Die Amerikaner favorisieren die Bildung sunnitischer Einheiten für die Rückeroberung des Nordens. Mit dieser an sich vernünftigen Idee sind die Schiiten absolut nicht einverstanden. Zu tief sitzt die Angst vor den militärischen Qualitäten der Sunniten, die ein Jahrhundert lang die Streitkräfte des Irak dominiert haben. Wenn schon sunnitische Einheiten, dann sollen sie klein und dem schiitischen Militär untergeordnet bleiben.
Aus diesen Gründen passiert wenig oder garnichts. Das schiitische Militär bleibt undizipliniert, korrupt und weitgehend wertlos. Die Sunniten wollen weder der Regierung, noch dem zusehends mehr einer kriminellen Bande gleichenden Kalifat dienen. So werden die auf baldige Befreiung hoffenden Untertanen des Kalifen enttäuscht. Hilflos müssen sie den doppelten Terror der Gotteskrieger und der Luftangriffe ertragen, während ihre Wirtschaft zerfällt, ihr Einkommen weggesteuert wird und sich Hunger und Not ausbreiten. Eine Tragödie, von der die Welt wenig erfährt, während in Bagdad die alten Ränkespiele und Intrigen herrschen und der Beamtenapparat sich nach Kräften am Erdölgeschäft und an der internationalen Hilfe bereichert.
Die Amerikaner verlegen soeben eine ihrer Elitetruppen in den Irak, die 101st Airborne Division, angeblich zu Ausbildungszwecken. Am 14. Februar wurde bekannt, dass eine weitere, nicht näher identifizierte amerikanische “Special Force” in der Ein al-Assad Airbase im Westen von Anbar eingetroffen sei, begleitet von schwerer Ausrüstung und Kampfhubschraubern. Vielleicht ist das ein Zeichen, dass die Ankündigungen der Regierung Abadi, demnächst Mossul erobern zu wollen, doch glaubwürdig sind. Abadi jedenfalls erklärte jüngst, dass die Streitkräfte “unabhängig” sein müssten: also überkonfessionell. Wie das gehen soll, hat er nicht ausgeführt.
Während sich das Land weiterhin in einer Art von stabilem Kleinkrieg befindet, wird das Tagesgeschehen von einer ganz anderen Drohung überschattet: ein amerikanisches Expertenteam will herausgefunden haben, dass der Damm des von Saddam Hussein geschaffenen Tigris-Stausees von Mossul morsch ist und brechen könnte,
Schon einmal in der Geschichte Arabiens hat der Bruch eines Staudamms eine Katastrophe bewirkt und Weltgeschichte geschrieben: In Jahre 575 AD brach der Damm von Marib im Jemen, der grösste Wasserbau der Antike. Die Flut zerstörte eine jahrhundertealte Zivilisation und sandte Scharen von Ökoflüchtlingen nordwärts gen Mekka, wo ein Prophet und Heerführer, Mohammed aus dem Stamm der Qureishi, Kämpfer für seinen Dschihad brauchte.
Der Damm von Marib, das achte Weltwunder, brach nach Jahrzehnten der Vernachlässigung. Genau dasselbe Problem bescheinigen jetzt die Fachleute dem Damm von Mossul. Aus politischen Gründen seinerzeit auf weichem, ungeeignetem Boden erbaut, muss er ständig mit Beton- und Kiesinjektionen stabilisiert werden. Das unterblieb monatelang, als der Daesh (IS) den Damm besetzt hielt. Auch danach unterblieben wegen der chaotischen Lage Wartungsarbeiten. Nun soll eine italienische Firma, geschützt von 450 (angeblich sogar 1000) italienischen Soldaten, den Damm reparieren. Bagdad zögert jedoch, den Vertrag zu unterzeichnen.
Es könnte schon zu spät sein. Wenn im Frühjahr die Schmelzwasser den Tigris anschwellen lassen, der Stausee ohnehin schon übervoll ist weil ein Teil der Schleusen nicht mehr funktioniert, dann kann es zum Dammbruch kommen. Eine Wasserwalze von 45 Meter Höhe würde Mossul total zerstören, ebenso Tikrit, und selbst das 650 km entfernte Bagdad würde von einer noch zweieinhalb Meter hohen Welle heimgesucht.
500.000 Menschen würden ertrinken und über eine Million obdachlos werden. Eine Katastrophe in der Grössenordnung des syrischen Bürgerkriegs, die zwar auch den Daesh in Mossul treffen würde, ihm in Rakka/Syrien aber Hunderttausende potentielle Dschihad-Kämpfer, die aus dem zerstörten Tigristal nach Norden strömen, zuführen könnte.
“Alles Quatsch”, sagt der irakische Wasserminister Mohsen al-Shamry, ein Schiit, der glaubt, dass die Amerikaner nur bluffen. um einen Grund zu haben, Truppen einzufliegen und die “Befreiung Mossuls zu verhindern”. “Der Damm wird halten”, sagt er, “es gibt keine Erosion an der Basis”.
Man kann nur hoffen, dass er mehr weiss als die Experten.
Heinrich von Loesch
Update
Die irakische Regierung und die amerikanische Botschaft haben die Bevölkerung vor der Möglichkeit des Dammbruchs gewarnt. Das italienische Aussenministerium teilt mit, dass die irakische Regierung (endlich!) den Vertrag für die Konsolidierung des Hochdamms von Mossul unterschrieben hat. Die Arbeiten im Rahmen des Auftrags an die Firma Trevi im Wert von 273 Millionen Euro sollen 18 Monate dauern.
Giulio Ratti, ein römischer Kommentator, schreibt zu der Meldung in breitem Dialekt: “Noch einmal habt Ihr Euch betrügen lassen! Die dort halten keinen Vertrag ein, sind stets im Krieg, haben vor nichts Respekt, haben keine Regierung, alles hängt in der Luft, es sei denn es werden 272 Millionen vor Arbeitsbeginn gezahlt, und 1 Million am Ende….( 2.3.16)