Wer rettet Italien: Renzi oder Aldi?

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   Matteo Renzi, der jugendliche Premier Italiens, bemüht sich mit Hartnäckigkeit, Pragmatismus und Spott, Italien zu reformieren. Wird ihm das Wunder gelingen, die Mauern der Beharrung zu schleifen? Seine Gegner im linken Flügel der eigenen Partei und in den Gewerkschaften lauern darauf, seine Reformen im besten Syriza-Stil rückgängig zu machen. Eine grosse Partie jedenfalls — wer wird sie gewinnen?

   Ganz anders steht es mit Aldi. Wenn der deutsche Discounter, wie er meldet, demnächst nach Italien geht, so ist das zwar eine relativ kleine Partie, doch der Gewinn ist sicher: für Italien und für Aldi. Die österreichische Aldi Süd -Tochter Hofer erklärte, sie wolle in „den nächsten Jahren“ in Italien Fuss fassen.

   Ein Erdbeben im Zeitlupenstil. Wenig Ereignisse könnten Italiens eingerostete Wirtschaft derart umkrempeln wie die Ankunft von Aldi. Gemeinsam mit dem Konkurrenten Lidl, der schon seit 1992 mit inzwischen etwa 600 Filialen in Italien agiert, könnten ein paar hundert Hofer-Filialen die Lebensmittelbranche zu einer Reform zwingen, von der Renzi nur träumen kann.

   In Grossbritannien haben die deutschen Discounter den Riesen Tesco und andere heimische Supermarktketten in Wanken gebracht. In Italien hat die französische Kette Carrefour schon jetzt schwer zu kämpfen; auch die zahllosen kleinen Ketten leiden seit Beginn der Krise 2009 unter dem Rückgang der Ausgaben für Lebensmittel und dem Trend der Verbraucher, sich die Discounter näher anzusehen.

   Ein Montag bei Lidl in der Via della Magliana in Rom. Der Parkplatz ist voll, einer der überall aktiven Bangladeschi stilisiert sich zum Parkhelfer und bietet Einkaufswagen ohne Münze an. Im Laden sind etwa die Hälfte der Kunden Italiener, der Rest Ausländer.

Vor dem Käseregal studiert ein italienisches Pärchen das Angebot und die pseudo-italienischen Eigenmarken: „Glaubst Du, dass die Mozzarella und die Ricotta gut sind? Sie kosten nur die Hälfte. Ob sie wirklich italienisch sind?“

   Deutsche Butter, o.k. Darf teurer sein als die italienische, unbegreiflicherweise. Aber deutsche Marmelade mit italienisch-griechischem Etikett?  Deutsche Schokolade, halb so teuer wie nebenan im Supermarkt? Es hat lange gedauert, bevor sich das Bürgertum in die deutschen Läden traute, sein Misstrauen überwand. Aber die Krise hat den Wandel erzwungen.

   Kein Problem für die Ausländer hier in diesem peripheren, bunt gemischten Viertel. Die zahlreichen Roma aus Osteuropa kennen und lieben Lidl. An der Kasse bezahlt eine mehrköpfige Roma-Familie mit eingerollten Kleingeld-Stangen. Die Kunden warten geduldig in der Schlange, während die ebenso geduldige Kassiererin die Röllchen aufmacht und die Münzen einzeln zählt. Ein grosser afrikanischer Ladendetektiv schaut, ob alles seine Ordnung hat.

   Warum würde Aldis Einstieg in Italien einen Erdrutsch auslösen? Weil Italiens Lebensmittelbranche ineffizient ist und von Rekord-Differenzen zwischen Erzeuger- und Ladenpreis lebt. Wer erwartet hatte, dass die Krise einen Preiswettbewerb der Supermärkte auslösen würde, sah sich weitgehend enttäuscht. Man erhöhte lieber die Handelsspannen und die Preise, als zu konkurrieren. Kein Wunder, dass Lidl und die wenigen einheimischen Discounter profitierten. Nicht auszudenken, was ein Wettbewerb zwischen Lidl und Aldi-Hofer bewirken würde.

   Laut italienischem Statistikamt ISTAT gab die durchschnittliche italienische Familie im Jahr 2013 pro Monat 2.360 Euro für Verbrauch aus,  also für Nahrung, Kleidung, Wohnen, Transport usw.  Davon entfielen 461 Euro auf Nahrung und Getränke, plus weitere 20-30 Euro für Nicht-Nahrungsmittel aus dem Supermarkt.

   Über ein Fünftel des Gesamtverbrauchs der Italiener geht also durch die Kassen der Supermärkte. Gelänge es Aldi, Lidl & Co, die Supermärkte zu zwingen, diese Ausgaben um ein Viertel zu senken, so wäre die Familie um 120 Euro im Monat reicher, was einem Kaufkraftzuwachs von 5 Prozent entspricht.

   Wenn man bedenkt, dass dafür mehrere Jahre und der Bau hunderter Läden erforderlich sind, sehen die 5 Prozent eher bescheiden aus. Das sind sie aber nicht, denn zwei Drittel oder mehr der Verbrauchsausgaben sind durch Fixkosten wie Wohnung, Ausbildung und Transport gebunden. Betrachtet man das frei verfügbare Einkommen, dann werden aus den 5 Prozent Kaufkraftzuwachs leicht 15 Prozent, bei Familien mit niedrigem Einkommen sogar mehr.

   Da Rentner, Arbeitssuchende, prekär Beschäftigte und Personen, die es aufgegeben haben, Arbeit zu suchen, zusammen nicht nur mehr als die Hälfte der Italiener, sondern auch potentielle Discounter-Kunden darstellen, kann man die Rolle von Aldi, Lidl & Co kaum überschätzen.

   Premier Matteo Renzi wäre jedenfalls gut beraten, Aldi und möglichen anderen Discountern den roten Teppich auszurollen. Sie können ihm eine seit Jahrzehnten von Christdemokraten und Berlusconi verschleppte,  überfällige Reform des Lebensmittel-Einzelhandels liefern, ohne dass es ihn ausser dem üblichen Streit mit den Gewerkschaften auch nur einen Euro kostet.

Benedikt Brenner

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