Salem 1947

   Salem ist ein berühmtes Internat, in das Patriziat und Adel traditionell ihre Sprösslinge zwecks Erziehung outsourcen. Dies geschah auch mir in jenem bemerkenswerten Jahr 1947, als Trizonesien voll unter Kriegsfolgen, Hunger und dem härtesten Winter (-32 Grad in München, -27 Grad in Stuttgart) litt.

   Salem war für mich nicht wirklich Salem, sondern seine Vorschule Burg Hohenfels. Wie üblich war auch 1947 der Hochadel mit klingenden Namen vertreten: Hessen, Hohenlohe, Hohenzollern. Wenn der Fürst von Sigmaringen zu Besuch kam, war das ein Ereignis, vor allem, da seine Maybach-Limousine durch den Einbau eines Holzvergasers im Kofferraum so tief hing, dass sie bei der Einfahrt in den Burghof den Boden kratzte und die Funken stoben.

   Hohenfels ist ein wuchtiges altes Gemäuer auf einem Hügel zwischen Wald und Obstwiesen gelegen. Letztere erwiesen sich als lebenswichtig, denn im Spätherbst lieferten sie eine Kostbarkeit, ein Nahrungsmittel: erfrorenes Fallobst.

   Die Internatsleitung hielt trotz der Zeitläufte auf die in Vorkriegszeiten eingeübte Disziplin, was angesichts des allgemeinen Nahrungsmangels merkwürdig anmutete. Das Essen war denkbar knapp: jeden Mittag gab es die gleiche Tomatensuppe aus Würfeln, die vage nach Mottenpulver schmeckte und mein Gegenüber am Esstisch regelmässig zum Erbrechen brachte. Das wurde jedoch nicht akzeptiert, er musste, so gut es ging, weiter essen.

   Da die Verpflegung so spärlich war, ging das Gerücht unter uns Jungen um, dass die Kochfamilie die Lebensmittelkarten der Zöglinge am schwarzen Markt verkaufe. Also suchte man, sich anderweitig Nahrungsmittel zu beschaffen.

   Nützlich war der Kachelofen im Klassenzimmer, auf dem man gefrorene Falläpfel aufwärmen konnte, wobei der Lehrer, Herr v. Poelnitz -- nie ohne seinen kältebedingten Nasentropfen -- das illegale Vorgehen freundlich ignorierte.

   Denn die Internatsleitung bestand darauf, dass wir Dreizehnjährige ausreichend ernährt seien und keine Zusatzverpflegung bräuchten. Gelobt sei, was hart macht. Um die Eltern mit unserer Verpflegung zufrieden zu stellen, wurden wir jede Woche gewogen und das stets erfreuliche Ergebnis zur Einsichtnahme der Eltern verzeichnet. Dass Hungerödeme den Körper mit Wasser aufschwemmen können, war nicht bekannt.

   Doch das wöchentliche Wiegen konnte einen leidigen Umstand nicht beseitigen, nämlich das Knurren der Mägen.

   Erfreulicherweise gab es Abhilfe in Form einer Ölmühle unterhalb der Burg. Bei dieser Mühle konnte man für fünfzig Reichspfennige einen Ölkuchen kaufen, eine dicke Scheibe des gepressten Rückstands der Ölgewinnung, grossteils aus Mohn bestehend, ungekocht.

   Als Viehfutter gedacht, erwiesen sich sich die Ölkuchen als Kraftnahrung für Internatszöglinge. Damit war jedoch ein Problem verbunden: man durfte die Ölkuchen nicht in die Burg mitbringen. Also war man, nachdem man sich satt gegessen hatte, auf der steten Suche nach einem Versteck: in der Regel in einer Höhle unter Baumwurzeln. Nicht unproblematisch, denn erstens musste man den Baum am nächsten Tag wieder finden, zweitens konnte es sein, dass Tiere das Versteck entdeckt und sich bedient hatten, denn Plastiktüten waren noch nicht erfunden.

   Zwar liess sich mit den Ölkuchen die Nahrungsversorgung deutlich verbessern, doch der Mohn machte schläfrig, belastete die Verdauung und behinderte Herrn v. Pölnitz' Mühe, uns etwas beizubringen.

   Viele Eltern erfuhren vermutlich nie, wie es dem Internat in Hohenfels doch gelang, in Hungerzeiten das Gewicht der Zöglinge stabil zu halten.

Heinrich v. Loesch

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