Afghanistan: Von Gott und dem Westen verlassen

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Die Einwohner Afghanistans müssen sich nun fragen, warum eine Mehrheit von ihnen zwei Jahrzehnte lang die Rückkehr der Taliban an die Macht unterstützt hat. Die Erwachsenen kannten noch das drakonische Regime der frommen Gotteskrieger. Sie wussten, dass der Westen die Taliban nicht akzeptieren würde.

Doch der Zusammenbruch ihrer Wirtschaft überraschte die Afghanen wahrscheinlich mehr, als der Sturz der alten Regierung den Westen zuvor überrascht hatte.

So schnell wie Kabul an die Taliban fiel, brach auch die Wirtschaft zusammen.

Rund 40 Millionen Menschen, die Hälfte davon Kinder und Jugendliche, und eine Million Drogenabhängige. Neunzig Prozent der Bevölkerung, für die es nicht mehr genug zu essen gibt. Väter, die ihre Töchter verkaufen, Eltern, die ihre eigenen Organe verkaufen, um nicht zu verhungern. 

Warum sah niemand die Katastrophe kommen?

Den Taliban fehlte ein Think Tank, der sie gewarnt hätte. Der Westen glaubte bis zum Schluss, die Situation unter Kontrolle zu haben. Gegenseitige Schuldzuweisungen sind nutzlos. Im Westen denkt man vielleicht, dass die Hungersnot die Afghanen lehren wird, die Taliban und ihren Islamismus zu hassen. Die Taliban werden froh sein, dass die Hungersnot die Afghanen lehrt, dass es Essen und Geld aus dem Westen nur gibt, wenn man den Dollar anbetet und Allah verrät.

Warum also die Katastrophe?

Das Afghanistan von heute ist ein ganz anderes Land als das von 2002, als die Taliban erstmals regierten und von der westlichen Koalition vertrieben wurden. Damals gab es 22,6 Millionen Afghanen, die sich mit einer jährlichen Wachstumsrate von 4,6 Prozent vermehrten:- ein Rekordwachstum im internationalen Vergleich. Kein Wunder, dass die Zahl der Afghanen im Jahr 2022 auf 40,8 Millionen angestiegen ist, mit einer jährlichen Wachstumsrate von  immer noch 2,34 Prozent.

In den Jahren der westlichen Dominanz hat sich die Bevölkerung also fast verdoppelt. Diese Tatsache ist der Elefant im Raum bei allen Überlegungen zu Afghanistan. Der Westen, der das Land besetzte, um den islamischen Extremisten von Bin Laden & Co. den Garaus zu machen - und dabei die Taliban stürzte - beschleunigte dadurch den Wachstumstrend der Bevölkerung. Steigendes Volkseinkommen, Anschluss an die Weltwirtschaft - das bedeutete Jahre der Hoffnung und des Fortschritts für die Afghanen, die trotz des Krieges im Lande mit mehr Geburten reagierten.

Doch weil der Boom aus dem Ausland finanziert wurde, entstand eine Subventionswirtschaft ohne inländisches Fundament. Die künstliche Blüte verwelkte, sobald die Subventionen verschwanden.

Der Westen hat, ohne darüber nachzudenken, mit seiner Besetzung des Landes die Verantwortung für das Überleben der neuen Hälfte der Bevölkerung übernommen Afghanistan kann sich in dieser Situation nicht selbst ernähren, und der Mangel an Nahrungsmitteln ist schockierend, vergleichbar nur mit Hungersnöten nach Missernten wie der Kartoffel-Hungersnot der 1840er Jahre in Irland.

Dass den Afghanen geholfen werden muss, liegt auf der Hand. Dass die Taliban so unappetitlich sind, dass niemand mit ihnen in Kontakt treten will, macht die Notlage noch tragischer. Wie immer in solchen Situationen - man denke an Syrien -wären die Übeltäter die ersten, die von der internationalen Hilfe profitieren. Wohlgenährte Taliban in Jeeps der amerikanischen Armee, die die Verteilung westlicher Lebensmittelspenden an hungernde Scharen von Bettlern kontrollieren, das wären Bilder, die die Welt schockieren würden.

Heinrich von Loesch

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