Das Ende der direkten Demokratie

Written on .

 

   Junge Menschen träumen gerne von einer besseren Welt, von einer besseren Demokratie, und viele von ihnen glauben zu wissen, wie man das erreicht:  indem man die parlamentarische Demokratie ersetzt durch eine direkte: nämlich eine Beziehung zwischen Souverän (Bürger) und Regierung ohne das störende Zwischenglied eines Parlaments mit all seinen Schwächen: den Parteien, den Lobbies und der unvermeidlichen Korruption.

   Die direkte Demokratie: ein Traumbild – lange Zeit nicht durchführbar, weil das Parlament ja tägliche Arbeit verrichtet, die man dem Souverän nicht aufbürden kann.  Man kann den Bürger nicht bitten, einmal pro Woche oder gar öfter zur Urne zu gehen.

   Jetzt aber, dank des Internet-Anschlusses vieler, fast aller Haushalte, könnte der Bürger am Feierabend, statt Fussball zu schauen, elektronisch abstimmen.  Lieber Fussball....

   Nun gut, man könnte ja eine hybride Demokratie einführen, in der die Klein-Klein-Arbeit weiterhin von einem (ziemlich unbedeutenden) Parlament geleistet wird, während alle grösseren Entscheidungen dem Bürger zur elektronischen Abstimmung vorgelegt werden. Also statt  Wochentags-Abend nur einmal pro Monat, System Schweiz. Funktioniert gut, meinen die Verfechter der direkten Demokratie. Warum also nicht? Für die Oma ohne Internet könnte vielleicht der Enkel abstimmen?

   Und nun der Schock: Brexit. Brauchte es je eines Beweises, dass direkte Demokratie absurde Resultate bringen kann, so brachte ihn das Brexit-Plebiszit. Ein Volk, irregeleitet von korrupten Medien, lügenden Aktivisten und Politikern, verliert total den Überblick über die Dimensionen seiner Entscheidung und ihre Konsequenzen. Eine alte Generation wird mit Träumen einer glücklicheren Vergangenheit eingelullt, eine junge Generation stimmt gegen ihre eigenen Interessen, nur um den Alten einen Denkzettel zu verpassen. Falsche Nostalgie, falscher Protest: als Ergebnis eine mittlere Katastrophe. Das Parlament, das böse, steht hilflos daneben und kann den Schaden nicht verhindern.

   Millionen grämen sich nun: hätten wir die Entscheidung nur dem Parlament überlassen! Darin sitzen Repräsentanten, die die Problematik besser überschauen und klüger für uns entscheiden könnten.

   Wie verhindert man, dass politisch Ungebildete falsche Entscheidungen treffen, fragt sich Giorgio Gori, der sozialdemokratische Bürgermeister von Bergamo, Italien. Sein Vorschlag: nur solche Bürger sollten abstimmen dürfen, die vorher eine Prüfung in Staatsbürgerkunde abgelegt haben. Also ein Zweiklassen-Wahlrecht wie einst in Preussen. Ein Kommentator spottet, Brecht zitierend: ”Das Zentralkonitee hat entschieden, das Volk ist damit nicht einverstanden, also muss ein neues Volk ernannt werden.”

   Während Europa sich um Schadensbegrenzung bemüht, steht schon das nächste Plebiszit im Raum: in Schottland. Erst die Europäische Union zerlegen, dann das Vereinigte Königreich – keine ermutigende Aussicht.  In Italien steuert Premier Matteo Renzi ein Plebiszit über sein Projekt einer Verfassungsreform an: es droht eine Mehrheit der Neinsager.....

--ed

 

Wie rettet man die Demokratie?  The Guardian hat mehrere interessante Antworten:

The people trying to save democracy from itself

 

 

 

P.S.:  Das Volk hat immer Recht

Beispiel 1:  Schockierend: Über 100 Nobelpreisträger haben sich in einem offenen Brief für den Einsatz der grünen Gentechnik in der Landwirtschaft ausgesprochen um die Welternährung zu sichern. Die Umweltauswirkungen der Gentechnik seien gering, der Verzehr der Lebensmittel sicher. Die Forscher bezichtigten Greenpeace und andere Gegner der Gentechnik des "Verbrechens gegen die Menschlichkeit".

Unerhört. Skandalös. Wie können Forscher es wagen, einen europäischen Glaubenssatz so unverschämt anzugreifen? Schliesslich wissen Europäer, seit vielen Jahren von Greenpeace & Co motiviert, dass grüne Gentechnik des Teufels ist. In zahllosen Käffern Deutschlands steht stolz ein Schild  "Genfreier Landkreis". 

Beispiel 2: Das deutsche Journal Zeit online startete eine Umfrage:  Sind Sie ein Befürworter von TTIP?  Nach 24 Stunden lautete das Ergebnis:  Nur 6 Prozent der Leser befürworten TTIP, 94 Prozent sind dagegen. Kompliment für die Veranstalter des Anti-TTIP-Kreuzzugs in Europa, vor allem in Deutschland.  Mit rationalen Argumenten sind die 94 Prozent nicht mehr zu erreichen -- sie wissen es stets besser. Welches Parlament, welche Regierung würde es wagen, TTIP gegen einen solchen Felsblock verteidigen? Wo bleiben die 100 Nobelpreisträger? 

Fazit:  Es scheint eine europäische Spezialität zu sein, umwälzende Innovationen zunächst prinzipiell abzulehnen, zumal wenn sie aus Amerika oder von anderweitig ausserhalb kommen. Diffuse Ängste, Paranoia, Risiko-Aversion, pseudo-ökonomische und pseudo-wissenschaftliche Argumente mögen eine Rolle spielen, doch hauptsächlich geht es wohl darum, das alte Europa so zu bewahren wie man es kennt und liebt. In einer Welt, die sich rasch fortbewegt, die sich laufend ändert, ist das eine gefährliche Strategie. Europa riskiert, abgehängt zu werden, zu verarmen im Vergleich zu Amerika und Asien. Der Prozess ist im Gange.

Ist es das, was die Europäer wirklich wollen?

 

 

 

 

 

 

Print