Türkei und Iran: die Welt als islamisches Kondominium
Beide, die Türkei und der Iran, streben ein hehres Ziel an: die Bekehrung der Welt zum Islam. Während der zunehmend religiös orientierte Herrscher der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, die Weltherrschaft der Sunniten anstrebt, kämpft der Ober-Ayatollah des Iran, Ali Chamenei, für eine schiitische Welt. Beide sind überzeugt, von Allah zu ihrem Kampf beauftragt und von ihm unterstützt zu sein. In der Wirklichkeit Syriens, des Irak, Bahreins und Jemens kollidieren die Speerspitzen der Sunna und der Schia mit schecklichen Folgen für die Zivilbevölkerung.
Ein Augenblick des Nachdenkens müsste den Anführern der beiden konkurrierenden Glaubensrichtungen klar machen, dass der Kampf gegeneinander um die Vorherrschaft in einzelnen Ländern dem übergeordneten Streben nach Weltherrschaft nur abträglich sein kann. Solange Sunniten und Schiiten gegeneinander kämpfen, können Christen, Juden und Agnostiker schadenfroh zuschauen. Eine Vorstellung, die Erdogan und Chamenei den Schlaf rauben müsste. Tut es aber nicht. Denn die beiden Herren haben sich längst arrangiert.
Ihre Länder besitzen 500 Kilometer gemeinsamer Grenze, über die man ausführlich den Sunna/Schia-Konflikt austragen könnte. Stattdessen koexistiert man friedlich und treibt regen Handel. Die Türkei hat sogar vor kurzem weitere Grenzübergänge ins Nachbarland eröffnet. Zwar verfolgen die Türken ihre schiitischen Minderheiten und drangsalieren die Iraner ihre Sunniten – aber an der Grenze grüsst man sich und kooperiert gegen einen gemeinsamen Feind: die kurdische Minderheit beiderseits der Grenze. Die friedliche Stimmung basiert auch auf der Erkenntnis, dass zwei gleich grossse Mächte (je rund 82 Millionen Einwohner), die noch dazu hochgerüstet sind, sich besser gegenseitig respektieren, als an Konflikt zu denken.
Im Januar 2014 empfing Ayatollah Khamenei in Teheran den (damals) türkischen Regierungschef Erdogan. Brav wie ein Schulbub sass Erdogan auf dem Sofa und hörte dem imposanten Vollbart El Seyyid Khamenei, dem Papst der Schiiten, zu. “Iran ist wie meine zweite Heimat”, flötete Erdogan. Ganz offensichtlich bewundert er die Islamische Republik und ihren allmächtigen Chef. Seit 2014 ist Erdogan jedenfalls rastlos am Werk, die Türkei in einen ähnlichen Gottesstaat zu verwandeln. Er hat offenkundig begriffen, dass das oberste Ziel der Bekehrung der Welt zum Islam nicht gegen die mächtigen Perser, sondern nur mit ihnen zu erreichen ist. Und Ali Khamenei kann es nur recht sein. Im Dauerkonflikt mit Saudi-Arabien, den Emiraten und Ägypten braucht er Verbündete, selbst wenn sie Sunniten sind, die den Schiiten genüsslich Vielgötterei vorwerfen.
Im Oktober 2017 war Erdogan erneut in Teheran und forderte, den bilateralen Handel von 10 auf 30 Milliarden Dollar im Jahr auszuweiten. In grossem Umfang importiert die Türkei iranisches Erdöl und Erdgas und bricht damit US-Amerikas Blockadeforderungen. Dem devisenhungrigen Nachbarn lieferten mafiose Händler mit engen Verbindungen in das Kabinett in Ankara grosse Mengen Goldes mit Hilfe der staatlichen Halkbank*), das in Dubai gegen Devisen verkauft wurde, wie der in Amerika verhaftete und verurteilte türkisch-iranische Schieber Reza Zarrab 2017 zur Unfreude Ankaras gestand. Angesichts der erneuten und verschärften Sanktionen Trumps gegen Teheran ist die Türkei wieder neben China und Nordkorea das wichtigste Tor des Iran zur Welt.
Die brüderliche Liebe zwischen Ankara und Teheran kommt diesmal die Türkei jedoch teuer zu stehen. Erdogans Weigerung, die amerikanischen Sanktionen mitzutragen und auf jeglichen Handel und Geldgeschäfte mit dem Iran zu verzichten, ist der Hauptgrund des gegenwärtigen Konflikts zwischen Washington und Ankara. Offiziell geht es um den verhafteten Pastor Brunson. In Wirklichkeit jedoch möchte Washington dem Autokraten Erdogan einen Riegel vorschieben. Zu lange schon hat das State Department die imperialistischen Bestrebungen Erdogans beobachtet. Mit seinen Bemühungen, die Türkei als Grossmacht in Asien und Afrika zu etablieren, besuchte und massierte er die Regierungen selbst so marginaler Länder wir Mauretanien und Madagaskar. Auf dem Balkan baut er fleissig Moscheen und in Syrien versucht er, einen Zipfel des Nachbarlandes für kriminelle Dschihad-Milizen zu retten. Im Irak bekämpft sein Militär Rückzugspositionen der kurdischen Guerilla. In Libyen unterstützt er die Moslembrüder-Fraktion in Tripolitanien. Mit der Hamas in Gaza ist er eng befreundet und mit Israel zunehmend verfeindet. Im Golf unterstützt er das Iran-freundliche Qatar und schützt es mit Truppen vor seinen Nachbarn Saudi-Arabien und Abu Dhabi. In Europa mobilisiert er die türkische Diaspora als national-klerikale Fünfte Kolonne.
Damit nicht genug. Mit Russlands Bau eines Atomkraftwerks und dem türkischen Kauf des russischen Raketen-Abwehrsystems S400 hat Erdogan signalisiert, dass er die NATO nicht als alternativlos ansieht. Der Austritt der Türkei aus der NATO ist angesichts des gegenwärtigen Zwists zwischen Washington und Ankara nicht mehr eine Frage des ob, sondern nur des wann. Die NATO-Mitgliedschaft ist mit dem Streben nach Grossmachtrolle und islamischer Glaubhaftigkeit nicht vereinbar, also eine Fessel, die Erdogan abstreifen wird, sobald sich eine passende Gelegenheit bietet. Sein Volk wird ihm dafür zujubeln, wie immer. Die NATO braucht zwar die Türkei, aber die Türkei braucht die NATO nicht. Von Assads Syrien und den aufmüpfigen Kurden abgesehen, ist sie von Freunden umgeben.
Erdogan munkelt gerne von einer alternativen Orientierung der Türkei. Aber welches Bündnis könnte die NATO ersetzen? Pakistan bietet sich an und liefert womöglich wertvolle Atomrüstungstechnik. Aber Pakistan ist zerrissen und schwach. China wäre mit seiner neuen Seidenstrassen-Politik ein guter Partner, wenn nur die Uiguren nicht existierten. Erdogan hat sich jahrelang als Protektor und Sympathisant der islamischen Uiguren aufgespielt – zum Ärger Chinas. Also kommt nur Russland als NATO-Ersatz infrage. Aber das Russland Putins ist ein ebenso unsicherer Kantonist wie die Türkei Erdogans. Keine gute Basis für ein Bündnis.
Vorerst hat Trump dem Gespann Türkei-Iran einen Prügel in die Speichen geworfen. Die Türkei muss am weiteren Bestehen des Ayatollah-Regimes im Nachbarland interessiert sein. Sollte es Präsident Trump mit den Sanktionen gelingen, eine Revolution der Verzweiflung in Iran loszutreten, die die Mullahs zurück in die Moscheen zwingt, dann wäre Erdogans Türkei das nächste Ziel der evangelikalen Trump-Fans. Die NATO-Partnerschaft würde Trump sicherlich nicht hindern, robust gegen das Moslembrüder-Regime in Ankara vorzugehen, mit Applaus von Saudi-Arabien und Ägypten. Schon jetzt werden neue amerikanische Waffen der Türkei vorenthalten.
In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise der Türkei ist Europa jedenfalls gut beraten, den Atem anzuhalten und jegliche Unterstützung Erdogans zu vermeiden. Auch empfiehlt sich, die NATO-Rolle der Türkei als angeblich "stabilisierenden Faktor im unruhigen Nahen Osten" zu vergessen. Die Türkei des Präsidenten Erdogan stabilisiert nichts -- im Gegenteil. Der Einsatz ihrer Truppen in Syrien, im Irak und in Qatar kann der NATO nur Schwierigkeiten bereiten. Die Allianz kann zwar kein Mitglied ausstossen, aber sie sollte nicht traurig sein, wenn ein Mitglied von selbst geht.
Niemand bezweifelt, dass die gegenwärtige Wirtschaftskrise der Türkei die Folge von Erdogans regelwidriger Wirtschaftspolitik ist, in deren Zentrum seine Abneigung gegen Zins steht. Beharrlich kämpft er gegen die Zinserhöhungen, die die Zentralbank angesichts der herrschenden Inflation vergeblich fordert. Damit beschert er der vermögenden Oberschicht, die Zugang zu Bankkrediten hat, risikolose Gewinngeschäfte. Man leiht sich Lira bei der Bank, kauft damit Dollars, Euro oder Gold und tilgt den Kredit Monate später mit entwerteten Lira.
Erdogans Zinsfeindschaft ist religiös begründet. Der Koran und andere Schriften verbieten Zinsgeschäfte weil sie den Kreditnehmer angeblich "ausbeuten". Das ist eine Denkweise, die zur Zeit des Propheten und davor nicht lebensfremd war. Damals war das Metallgeld langfristig wertstabil, weil es nicht beliebig vermehrt werden konnte. Der Begriff Inflation, der heute die Türkei charakterisiert, existierte nicht.
Erdogan ist ein Mann starker Überzeugungen und des Willens, die Welt so zu formen, wie sie gemäss der Scharia sein sollte. Da der Koran nie irrt, kann seine Wirtschaftspolitik nur die einzig erfolgreiche sein, denn "die Anderen haben ihren Dollar, aber wir haben Allah!" Die Krise, so er sie überhaupt zur Kenntnis nimmt, kann daher nur eine Folge des Neides auf die Erfolge der Türkei und der Sabotage durch das christliche und jüdische Ausland sein. Es ist für ihn logisch, in der Krise den religiösen und nationalen Beistand seines Volkes und der Moslems weltweit einzufordern. Wie weit er damit Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten.
Ihsan al-Tawil
*) "...Turkey asked the U.S. to drop an ongoing investigation into Halkbank, one of the biggest state-owned Turkish banks. Halkbank faces major fines for allegedly violating U.S. sanctions on Iran. In exchange, the Turkish government would release Andrew Brunson, an American pastor..."