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Al-Sisi oder der säkulare roll-back

 

Al-Sisi oder der säkulare roll-back

 

Ägyptens neuer Präsident Abdel Fattah al-Sisi hat zwar eine massiv boykottierte Wahl haushoch gewonnen, doch schlägt ihm vom Ausland wenig Sympathie entgegen.

Seine Ankündigung, er werde sein Land mit eiserner Faust regieren, finden Demokraten allerorts bestürzend. Sie hofften auf wenigstens ein bisschen Bekenntnis zu Pluralismus und Demokratie, hinter dem man seine Autokratie verstecken könnte, wie es beispielsweise Recep Tayyip Erdogan in der Türkei tut.

Aber Al-Sisi ist kein Politiker, sondern ein Militär. Statt um den Brei herumzureden, gibt er lieber Befehle und wacht über ihre Ausführung.  Demokratische Ideale und Formen sind ihm fremd. Aber im Gegensatz zu vielen Politikern hat Al-Sisi eine Vision. Die Vision eines modernen Ägypten reif für das 21. Jahrhundert.

Niemand bezweifelt, dass Al-Sisi ein Patriot ist. Bis zum Gegenbeweis wird auch angenommen, dass er nicht korrupt ist. Was treibt ihn an, wo wird er das Nilland hinführen?

Im Jahre 1954, als Gamal Abdel Nasser, der damalige starke Mann Ägyptens, nach einem Mordversuch der Moslembrüder diese erstmals verbieten liess, wurde Al-Sisi geboren. Aus einer grossen und wohlhabenden Familie stammend, entschied er sich früh für den Militärdienst.  Im Jahre 1977, als Nassers Nachfolger Anwar as-Sadat Israel besuchte und vor der Knesset sprach, absolvierte Al-Sisi die Militärakademie.

In den Folgejahren stieg er in der Hierarchie auf. Zwei Auslandsaufenthalte dürften ihn stark geprägt haben: in den USA erhielt er Sonderausbildung, und 2006 diente er als Militärattaché an der Botschaft in Riyadh, Saudi Arabien.

Aus der Vita ergibt sich, dass Al-Sisi das Prinzip Demokratie nie in Funktion erlebt hat. Zeit seines Lebens war Ägypten eine mehr oder weniger straff geführte Diktatur. Eine Militärdiktatur, um präzise zu sein.  Selbst sein gewählter ziviler Vorgänger, der Islamist Mohamed Morsi, nutzte seinen Wahlerfolg nur, um alle Macht an sich zu reissen und die Opposition zu verfolgen.

Ägypten war auch in den Jahrzehnten der Monarchie vor Abdel Nasser nie eine richtige Demokratie. König Faruk, ein in England geschulter, intelligenter und gebildeter Herr, gab seiner Neigung zu Grossmannssucht, Korruption und Prasserei nach. Von den britischen Protektoratsherren gegängelt und von seinem Grosswezir Nahas Pascha ausmanövriert, weinte ihm niemand eine Träne als er nach der Katastrophe des ersten Israelkrieges von jungen Offizieren um Abdel Nasser abgesetzt wurde und später im römischen Exil an den Folgen eines üppigen Mahls starb.

Schade eigentlich, denn trotz aller Fehler waren die Jahrzehnte der konstitutionellen Monarchie nach 1922 Ägyptens beste Zeit. Das Land florierte dank Export der kostbaren langfaserigen Baumwolle, die verschiedenen Religionen lebten in Frieden miteinander. Zahreiche Ausländer gründeten Unternehmen. Die Griechen dominierten die Zigarettenindustrie und den Weinbau, die Libanesen betrieben Handel und Banken. Die Metropole Kairo war relativ reich und  mondän. Im schweizer Cafe Groppi planten die Offiziere ihren Putsch.  Selbst die Kunst- und Antiquitätenauktionen von Kairo waren international bedeutend. Eleganter noch als Kairo war das levantinisch geprägte Alexandria, ein Mikrokosmos des Mittelmeers.

Das alles hat Al-Sisi nicht erlebt. Aber er hat es gehört. Seine Familie wohnte in einem multi-kulturellen Viertel von Kairo in der Nähe der Al-Azhar-Universität, wo Moslems, Juden und Christen zusammen lebten. Sein Vater galt als frommer, aber nicht fanatischer Moslem.

Al-Sisi selbst ist Moslem, auch wenn seine Feinde, die Moslembrüder, verbreiten, sein Mutter sei eine marokkanische Jüdin, die erst 1973 naturalisiert wurde, um dem Sohn die Militärkarriere zu ermöglichen. Dem Vater wird unterstellt, er stamme von Armeniern (also Christen) aus der Stadt Sis am Fusse des Ararat ab.  Dabei ist Al-Sisi kein ungewöhnlicher Name in Ägypten: es gibt auch einen Moslembruder dieses Namens. Zudem darf man sicher sein, dass Amtsvorgänger Mohamed Morsi Al-Sisi nicht zum Generalstabschef, zum Feldmarschall und zum Verteidigungsminister in Personalunion ernannt hätte, wenn es irgendwelche Zweifel an dessen religiöser Orientierung gegeben hätte.

Übrigens sollte man fairerweise nicht vergessen, dass Al-Sisi seinen ehemaligen Brotherrn Morsi nicht in einer Nacht- und Nebel-Aktion gestürzt hat, sondern tagelang abwartete, wie sich der Aufstand breiter Teile des Volkes gegen Morsi entwickelte und warnte, dass das Militär eingreifen  müsse, falls Morsi den Forderungen nicht nachgebe.

Dann aber, als die Entscheidung zum Sturz Morsis gefallen war, griff Al-Sisi mit beispielloser Entschiedenheit und Härte gegen die Brüder durch. Nicht nur gegen sie, sondern auch gegen die rebellische Jugend des Tahrir-Platzes, deren Proteste Ex-Diktator Hosni Mubarak mit Hilfe des Militärs gestürzt hatten.

Al-Sisi hat klargestellt, dass es in den kommenden Jahrzehnten nur eine Kraft geben wird, die Ägypten regieren kann: das Militär.

Er sieht Ägypten als unreif an für eine Demokratie westlichen Musters und ihre Protagonisten, die rebellische Jugend, als voreilige Störenfriede.

Er meint, das Land brauche dreissig Jahre friedliche Entwicklung. In dreissig Jahren, so glaubt er, wird sich die Mode des aggressiven Islamismus totgelaufen haben, werden die jungen Menschen den religiösen Pluralismus und die traditionelle Toleranz Ägyptens wieder entdeckt haben.

In der Tat ist für den Kenner Ägyptens eine islamistische Herrschaft, womöglich mit einer Art von Scharia-Recht, schwer vorstellbar. Die scharfe Reaktion der Bevölkerung auf Morsis ungeschickte Versuche, Brüder in alle Machtpositionen zu schleusen, das Erziehungswesen, die Medien und selbst den Alltag zu islamisieren, zeigt, dass die Mehrheit der Ägypter trotz aller Frömmigkeit nicht bereit ist, sich von Islamisten mit ihrem Fanatismus und Tunnelblick kujonieren zu lassen.

Natürlich liess sich die Ablehnung Morsis und der Brüder nicht 1 : 1 auf Al-Sisi übertragen.  Daher haben viele Frommen und wohl auch Säkularen die Wahl boykottiert, weil sie als Ersatz für Ex-Diktator Mubarak nicht wieder einen Offizier wollten, der Mubaraks Repressionspolitik noch energischer betreibt.

Dennoch hat die knappe Mehrheit der Wahlberechtigten den erklärten Diktator gewählt.  Darin zeigt sich die bemerkenswerte Selbsterkenntnis der Wähler, dass Ägypten nicht reif für ist eine säkulare Demokratie. Die Wähler stimmten mithin Al-Sisis Kernaussage zu und sicherten ihm ein breites Fundament.

Ägyptens Militär hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Begründet wurde es im frühen 19. Jahrhundert durch einen albanischen Heerführer, Mohamed Aly Pascha, der im Auftrag der Hohen Pforte die ottomanische Provinz Ägypten verwaltete. So erfolgreich war er, dass er die arabische Halbinsel, den Sudan und Teile Griechenlands im Namen des Sultans unterwarf und nur mit Mühe daran gehindert wurde, Istanbul selbst einzunehmen.

Die regierende albanische Sippe, deren Chefs erst zu Khedive (Vizekönig) und endlich zu König ernannt wurden, beherrschte Ägypten bis 1952 und organisierte das Land nach ottomanischem Muster. Türkischer Beamtenadel regierte: Türken, Griechen, Armenier und Tscherkessen bekleideten wichtige Posten auch in der Armee.

Ab 1880 änderte sich das Bild: Grossbritannien gewann die Herrschaft über das Nilland. Die wichtigsten Posten in Verwaltung und Offizierskorps nahmen nun Briten ein,  doch die zweiten Ränge blieben mit dem ottomanischen Beamten- und Offiziersadel besetzt. Gewöhnliche Ägypter wurden daran gehindert, Offizier zu werden.

Unter den Briten verkümmerte das Militär und erwachte aus seinem Dornröschen-Schlaf erst wieder ab 1948 dank der Herausforderung der Existenz Israels. Verlorene Kriege machten das Militär jedoch zum Gespött; erst nach dem Friedensschluss von Camp David 1978 erfolgte der Aufbau moderner Streitkräfte mit amerikanischer Hilfe. 

Nun konnten auch einfache Ägypter Offizier werden, bespielsweise Hussein Tantawi aus einem Dorf in Oberägypten and Sami Anan aus Damietta im Nildelta, die beiden Generäle, die Hosni Mubarak stürzten und danach selbst von Mohamed Morsi zum Rücktritt gezwungen wurden.

Nach ihrem Muster ist Al-Sisi, fast eine Generation jünger, Repräsentant dieses neuen, amerikanisch geprägten Militärs, das stolz auf seine Herkunft aus der Mitte des Volkes ist. Das Selbstbewusstsein dieser Ofiziere gründet auf ihrer technischen Kompetenz im Umgang mit Waffen: sie sehen sich als Speerspitze der Modernisierung des immer noch hälftig analphabetischen Ägyptens.

Ausserdem sind sie wirtschaftlich erfolgreich. Die Wehrpflichtigen als fast kostenlose Arbeitskräfte nutzend und ihren Immobilienbesitz einsetzend, haben sie in den Jahren unter Mubarak das grösste Wirtschaftsimperium Ägyptens aufgebaut und ihren Top-Leuten beste Versorgung garantiert.

Die kompromisslose Härte Al-Sisis im Umgang mit den Moslembrüdern ist wohl die Folge von Morsis Versuchen, die Streitkräfte zu entmachten. Statt dem Beispiel seines türkischen Amts- und Glaubensbruders Tayyip Erdogan zu folgen und die Entmachtung des Militärs ganz langsam und behutsam anzugehen, zeigte Morsi mit der Beseitigung Tantawis und Anans, dass er kurzen Prozess mit den Offizieren machen will. Ein mutmasslich tödlicher Fehler.

Während das Verhältnis zwischen den jungen, säkularen Erneuerern und den Offizieren im Prinzip noch offen ist und ein künftiges Arrangement nicht ausschliesst, kann mit Sicherheit angenommen werden, dass das Militär auf sehr lange Sicht keine Rückkehr der Islamisten an die Macht gestatten wird.

Die Geschicklichkeit, mit der seinerzeit die Moslembrüder die Tahrir-Revolution von 2011 ausnutzten, um die säkularen Streiter auszubooten und sich selbst 2012 die Macht mit Hilfe ihres frommen Stimmviehs anzueignen, hat die Militärs verblüfft.  Der Morsi-Schock sitzt tief.

So weiss man ziemlich genau, was Al-Sisi nicht will. Aber was will er stattdessen? Bislang hat man von ihm kein Programm gehört. Er hat, was ungewöhnlich ist, eine Wahl gewonnen, ohne seine Pläne zu verraten.

Er will Ruhe im Lande. Er will Aufbau und Gerechtigkeit. Das ist plausibel aber nicht genug.

Wie will er beispielsweise die horrenden Preissubventionen bei Treibstoff und Brot abschaffen, die Ägyptens Staatshaushalt ruinieren? Irgendwann sind die Gelder aus Saudi Arabien und Qatar zuende, die jetzt die Pleite verschleiern. 

Streicht man die Brotsubvention, so werden Millionen Ägypter verhungern. Wie Thomas Robert Malthus schon 1798 erkannte, wächst die Bevölkerung, solange es billige Nahrungsmittel gibt. Gäbe es die Subventionen nicht, wäre das Bevölkerungswachstum des Nillandes spätestens um 1980 bei 40 Millionen zwar nicht stehen geblieben, aber stark abgeflaut.

Jahr     .000     pro Jahr

1882

6,712

—    

1897

9,669

+2.46%

1907

11,190

+1.47%

1917

12,718

+1.29%

1927

14,178

+1.09%

1937

15,921

+1.17%

1947

18,967

+1.77%

1960

26,085

+2.48%

1966

30,076

+2.40%

1976

36,626

+1.99%

1986

48,254

+2.80%

1996

59,312

+2.08%

2006

72,798

+2.07%

2013

84,314

+2.12%

Solange Frieden herrscht und es Brot billig gibt, wächst die Bevölkerung mit über 2 Prozent im Jahr weiter, unbeirrt. Ein immer kleinerer Teil der bald hundert Millionen Ägypter kann von der eigenen Scholle -- einem Anbaugebiet kaum grösser als Baden-Württemberg -- ernährt werden.

Ägypten ist zwar auch ein aufstrebendes Industrieland, doch wie soll es weitergehen, wenn der Energiebedarf überwiegend durch Einfuhren gedeckt werden muss und sich der Staat die Subventionen für die ölgefeuerten Kraftwerke und das radikal verbilligte Benzin und Heizöl nicht mehr leisten kann?

Zu den kurzfristigen Problemen gesellen sich die langfristigen Perspektiven, die unklar sind. Will Al-Sisi dem Land eine radikale, säkulare Modernisierungskur verpassen, so wie es Kemal Atatürk in der Türkei und Reza Pahlevi im Iran taten? Oder wird er den Emiraten zu Gefallen sein und einen staatstragenden Islam ohne Moslembrüder erlauben?

Ebenso wichtig: wird er die endemische Korruption bekämpfen oder sich damit begnügen, die Geldströme und Einflüsse an die richtigen Adressen zu lenken?  Hosni Mubarak ist wegen Veruntreuung vorinstanzlich zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Wird Al-Sisi der Saubermann sein, den sich die Ägypter und ihre Freunde erhoffen?

Viele Beobachter glauben, dass die Subventionen und andere Wirtschaftsprobleme ihm das Genick brechen werden, weil die launische Bevölkerung sich schnell gegen die Offiziere wenden kann, wenn diese die erhofften wirtschaftlichen Wunder nicht herbeizaubern.

Man kann den Tahrir-Platz zwar absperren, aber nicht für immer.

 John Wantock

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