Die Supermärkte in der Epidemie
Die Corona-Epidemie bedroht den Einzelhandel mit Ausnahme der Supermärkte. Im Gefolge des Trends zum Online-Einkauf geraten die Supermärkte zur wichtigsten Schnittstelle zwischen Verbrauchern und der analogen Umwelt Während des strikten Lockdowns boten die Supermärkte die nahezu einzige Gelegenheit, sich anzustecken. Um diese Gefahr zu mindern, wurde Maskenzwang eingeführt, wurde die Benutzung einer begrenzten Zahl von Einkaufswagen (zur Wahrung der Abstände) Vorschrift, wurden Hand-Desinfektionsgeräte aufgestellt, teilweise sogar Wagen desinfiziert.
Kaum wurden im Zuge der Wieder-Normalisierung die Vorschriften gelockert, verzichteten viele Supermarktketten auf die ungeliebten Schutzmassnahmen mit Ausnahme der Maskenpflicht und der Plexiglas-Bewehrung der Kassen.
Die Epidemie geht leider nicht vorüber, im Gegenteil: in Deutschland wie in den meisten anderen Ländern kehrt sie mit Macht zurück. Aber die Supermärkte ignorieren ihre zentrale Rolle im Ansteckungsgeschehen. Wenn man sie nicht zwingt, werden viele von ihnen konkrete Schutzmassnahmen weiterhin durch blumige Textbausteine ihrer Kundendienste ersetzen. Hand-Desinfektionsgeräte wären neben der weiterhin gültigen Maskenpflicht eine wirksame Schutzmassnahme. Von den grossen Discountern hält nur Kaufland sie weiterhin in Betrieb, lobenswerterweise.
Offensichtlich fehlt vielen Supermarktketten das Verständnis ihrer zentralen Rolle im Infektionsgeschehen. Stattdessen schiebt der Sprecher des Handels, Herr Sanktjohanser (REWE) den schwarzen Peter den Verbrauchern zu, wie der SPIEGEL berichtete:
Wegen der steigenden Corona-Infektionszahlen müssen Verbraucher nach Ansicht des Einzelhandels wieder mehr Disziplin bei der Einhaltung der Corona-Regeln zeigen. Bei einem zweiten Lockdown seien viele Handelsunternehmen nicht mehr zu retten, warnte der Präsident des Handelsverbands Deutschland (HDE), Josef Sanktjohanser.
Dass es auch anders geht, beweist beispielsweise ein Italien-Importeur mit Gross-und Einzelhandel in München. Fa. Spina stellt eine Person vor den Eingang, die auf Einkaufswagenpflicht achtet und bei jedem Besucher vor Zutritt die Temperatur auf Stirnhöhe misst. Nach dem Einkauf muss der Wagen separat abgestellt werden, damit er nicht wieder benutzt werden kann. Wahrscheinlich findet dann Desinfektion der verwendeten Wagen statt.
Genau betrachtet, ist die gesundheitsspezifische Rolle der Supermärkte ziemlich katastrophal.
- Sie fühlen sich sicher, denn ihre Funktion ist in der Epidemie ebenso essentiell wie die der Krankenhäuser und der Bestatter. Sie sind nicht von temporärer Schliessung zur Minderung der Ansteckungsgefahr bedroht.
- Die Epidemie kann ihrem Geschäft nichts anhaben; im Gegenteil, während des Lockdowns verzeichneten sie einen Kaufboom.
- Sie sind juristisch unangreifbar, denn wenn ein Kunde sie verklagen wollte, weil er/sie sich an einem vorbenutzten Einkaufswagen oder an einer hundertmal betatschten Avocado infiziert hat, wäre es unmöglich, den Beweis zu führen.
- Ihre pädagogische Rolle als Volkserzieher ist ihnen weder bewusst noch wäre sie betriebswirtschaftlich relevant. Ein Supermarkt, der auf alle Hygienemassnahmen mit Ausnahme der Maske verzichtet, signalisiert dem Kunden, dass das Leben wieder normal ist und er/sie sich vorepidemisch verhalten darf*).
Summa: Volksgesundheit ist für Supermärkte betriebswirtschaftlich nicht relevant. Bemerkenswert ist daran nur, dass die Gesundheitsbehörden dies nicht erkennen oder aus politischen Gründen nicht wissen wollen. Sicher ist allerdings, dass eine wirksame Seuchenbekämpfung ohne Berücksichtigung der zentralen Rolle der Supermärkte unmöglich ist. Die Behörden sind aufgerufen, endlich zu handeln und den Lebensmittel-Einzelhandel zu Hygienemassnahmen zu zwingen, die er freiwillig nicht zu leisten bereit ist.
Heinrich von Loesch
*)Aldi-Süd und Lidl haben inzwischen auch Desinfektions-Säulen aufgestellt.
Update: die meisten Märkte haben inzwischen Desinfektionssäulen oder wenigstens Sprühflaschen aufgestellt. Spät, aber immerhin. Von Wagenpflicht und wirksamer Begrenzung der Besucherzahl ist jedoch wenig zu sehen
Frage: Sollte ein Supermarkt vorübergehend geschlossen werden, wenn seine Desinfektionsgeräte kaputt sind und die Zentrale keinen Ersatz über Nacht liefern kann? Mangel an Desinfektion gefährdet nicht nur Kunden, sondern auch das Personal.
Update II
Immer öfter hapert es bei der Desinfektion. Zwei Standgeräte sind in einem Fall zwei Wochen lang kaputt -- Ersatz offenbar nicht lieferbar. Stattdessen muss eine einzige Sprühflasche den ganzen grossen Markt versorgen; tut sie auch (wenn sie nicht am Samstag gerade leer ist); die Kunden murren nicht. Nur kommen mitunter Zweifel hoch, ob in der Flasche wirklich Desinfektionsmittel ist, nicht etwa verdünntes Wasser mit Geruch.
In einem kleinen Markt ist das Gerät am Eingang leer. Ein weiteres Gerät steht am Ausgang, ist voll, aber niemand benutzt es, begreiflicherweise. Könnte man es nicht die paar Meter vom Ausgang zum Eingang schieben? Die Kassiererin: "Ich werd's dem Chef sagen." Welchem Chef
Update III
Mit einigen Monaten Verspätung hat auch die Süddeutsche das Thema Supermärkte entdeckt. Allerdings konzentriert sich der Artikel auf das Thema Überwachung durch Behörden, die naturgemäss dürftig ist und die fehlende Selbstdiziplin und das mangelnde Verantwortungsbewusstsein der Supermärkte nicht ersetzen kann.