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Der Flohmarkt: Vertriebsform der Zukunft?

   Flohmärkte sind beliebt. Sie nehmen stark an Zahl und Grösse zu. In den USA sind sie bestens organisiert mit eigenen Zeitungen. In Pennsylvania und Florida stellen sie einen wichtigen Wirtschaftsfaktor mit tausenden Händlern dar. In Europa werden sie, ausgehend von den berühmten Puces in Paris, allmählich ebenfalls zu einem Wirtschaftsfaktor. In München findet jährlich ein grosser Markt auf der Theresienwiese statt. In Rom wird jeden Sonntag der wohl grösste Flohmarkt des Mittelmeer-Raums an der Porta Portese veranstaltet.

   In der Ära von Industrie 4.0, Amazon, Outlet Centers und Drohnenzustellung wirken Flohmärkte wie aus der Zeit gefallen. Doch sie prosperieren höchst anti-intuitiv. Weshalb?

   Ein Geheimnis ihrer Vitalität ist keines: die Steuerfreiheit. Je höher ein Staat die Mehrwertsteuer, die Gewerbesteuer und die Einkommensteuer schraubt, desto mehr Gewerbetreibende und solche, die es werden möchten, flüchten in Internet und Flohmärkte. In den USA mit ihrer notorisch schwachen Altersversorgung finden mom & pop-Senioren fröhliche und oft  einträgliche Erwerbstätigkeit auf den fliegenden Märkten. Die Sehschwäche des Auges des Gesetzes ausnutzend, wird von Diebesgut über Markenfälschungen bis zu verbotener Ware und illegalen Einfuhren vieles auf der Basis gehandelt, dass Verkäufer und Käufer sich nie wieder begegnen. Und falls doch, dann herrscht Amnesie. Die mit Internet und Ebay aufgewachsene Generation sieht Kleinst-Handel als ganz gewöhnliche Nebentätigkeit an und hat keine Hemmungen, auf Flohmärkten einzukaufen und sogar selbst dort aufzuschlagen. 

   In Rom wimmelt die Porta Portese von ausländischen Verkäufern, meist Bangladeshi und Arabern. Der italienische Standinhaber zählt das Geld, der Bangladeshi schreit die Ware aus und verkauft sie. Das Vertragsverhältnis zwischen Patron und extracomunitario: Bargeld brevi mano, von Hand zu Hand. Flohmärkte sind zunehmend bedeutsam nicht nur als effizienter Vertriebsweg, sondern auch als Mittel der Arbeitsbeschaffung. Vom frisch angekommenen Asiaten, der gewissermassen noch nass vom Mittelmeer ist, bis zum bleichen Gefängnis-Entlassenen avanzo di galera, der einen Neuanfang braucht, ihnen allen bietet die Schattenwirtschaft der freien Märkte Möglichkeiten, die es nirgendwo sonst gibt. Wahrscheinlich integrieren Italiens fliegende Märkte mehr Migranten als alle staatlichen Initiativen zusammen genommen. Wer anspruchslos ist, schlechtes Wetter nicht scheut und früh aufsteht, ist willkommen. Die Flohmarkt-Veranstalter verdienen glänzend. Sie interessiert nur eines: das Einsammeln der Standgebühren. Wer wer zu sein behauptet, ist ihnen egal.

   In der Theorie ist der Flohmarkt ein Gebrauchtwaren-Markt. In der Praxis werden mehr und mehr Neuwaren zu steuerfreien Preisen angeboten. Wie geht das? Es reicht, auf dem Stand auch ein paar gebrauchte Sachen zur Dekoration auszulegen, schon ist dem Gesetz Genüge getan. Wer einen Flohmarkt wie die Porta Portese gut kennt, findet dort einen erheblichen Teil des Haushaltsbedarfs, der Kleidung, der Technik, der Elektronik in neuer und oft ordentlicher Qualität, zu akzeptablen Preisen. Garantie? Man kennt den Händler.

   Die Gewohnheit vieler Leute, die Märkte des Wochenendes für Spaziergänge samt shopping zu benutzen, führt im Extremfall dazu, dass Flohmarkthändler höhere Preise als reguläre Läden verlangen. Manche Einwanderer aus dem tiefen Süden und Osten scheuen sich, in Läden einzukaufen: Schwellenangst. Auch recycling von Waren ist durchaus drin, wenn beispielsweise ein Stand für Provinz-Spezialitäten in Roms Conca d’ Oro-Markt eine Käsesorte von Lidl verkauft,  mit Aufschlag, versteht sich.

   So weit ist das alles ganz lustig und bildet zur Freude der Anarchisten einen wachsenden und wenig reglementierten Freiraum. Bedenklich wird die Entwicklung erst, wenn der steuerfreie Handel ausser Kontrolle gerät und, wie in Pennsylvania, einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes mit tausenden von Händlern wird. In Rom ist es so weit, dass der etablierte Handel unter der Konkurrenz der Freien leidet und protestiert, bislang vergeblich.

   Typisch für Italien und insbesondere Rom sind fliegende Stände, bancarelle genannt, die tagaus, tagein alle Knotenpunkte des Lebens belagern. Bahnhöfe, Kaufhaus-Eingänge, Sehenswürdigkeiten, Ämter, Haltestellen, Friedhöfe. Von den 10.000 fliegenden Gehweg-Händlern Roms, selbst vor den Mülltonnen, haben nur 2000 einen Gewerbeschein, die anderen 8000 sind illegal. Sie handeln mit allem, was es auch in Läden gibt: vor allem Kleidung, Schuhe, Wäsche jeder Art, Taschen, Schirme, Schreibwaren, Spielzeug, Souvenirs, Smartphones und Zubehör. Damit machen sie den Kaufhäusern, vor denen sie aufgeschlagen haben, Konkurrenz: sie verkaufen aber auch die Produkte einer ganzen Fälschungsindustrie. Der Ponte S. Angelo, die Engelsburg-Brücke war bis vor kurzem fest in der Hand von Senegalesen, die Vuitton-Kopien und andere Fälschungen den Touristen aufdrängten. 

   Rom allein zählt geschätzte 20.000 illegale Betriebe, fünf Prozent aller regulären Unternehmen. Von Fälscherwerkstätten über fliegende Händler auf den Gehwegen, illegale Autoverleihs und wilde Übernachtungsbetriebe ist ihre Zahl in den Jahren der Krise regelrecht explodiert. Wenig Polizei, laxe Kontrollen und nicht angewendete Vorschriften sind laut La Repubblica (29/5/17) Gründe für diese Entwicklung. Neben den 3500 offiziellen Hotels und Pensionen Roms gibt es wenigstens 3500 weitere Herbergen ohne Zulassung, vor allem im touristischen Zentrum.

   “Kontrollen der Polizei sind notwendig und wir sind dankbar dafür”, sagt Valter Giammaria, der Präsident des Einzelhandelsverbandes von Rom, “aber sie reichen bei weitem nicht. Die parallele Wirtschaft ist so riesig, dass nur ein massives Einschreiten der Polizei in der gesamten Stadt Erfolg versprechen würde”. (La Repubblica 29/5/17) “Rom ist unter den grossen Städten ein Sonderfall geworden, eine Geisel des illegalen Handels, der durch seine bancarelle und rollenden Kioske das Antlitz der Stadt verändert hat.” Die etablierten Händler reagieren auf die Flut der Billigwaren, indem sie selbst die Qualität senken, um konkurrenzfähig zu bleiben, klagt Giammaria. Auch der Fremdenverkehr reagiert, indem er sich vom Elite-Tourismus der Pilger und Kunstkenner zu einem Billig-Massentourismus wandelt mit Pizzerien, fragwürdigen Eisdielen und chinesischen Souvenir-Läden.

   Man sollte meinen, dass sich die Politik für das Problem interessiert, denn die Lizenzen für rund die Hälfte aller rollenden Imbisswagen, Kioske und geschätzte 90 Prozent der bancarelle gehören einer einzigen grossen Römer Sinti-Familie, den Tredicine, die Millionen damit verdienen.  Die Standbetreiber sind fast ausschliesslich Bangladeshi. Eine informelle Umfrage zeigte kürzlich, dass neun von zehn Standinhabern bei der Frage nach ihrem Lizenzträger den Namen "Tredicine" angaben. Seit Jahrzehnten dominieren die Tredicine das ambulante Gewerbe, sitzen im Stadtrat und liessen sich kürzlich von der neuen Stadtverwaltung der Grillina Virginia Raggi ihre seit den sechziger Jahren existierende Quasi-Monopol-Position erneut langfristig bestätigen und festigen, zur Überraschung der Öffentlichkeit, die von Raggi energische Schritte zur Eindämmung der Misstände erwartet hatte. 

   Roms starke Zuwanderung aus Asien und Afrika stärkt die parallele Wirtschaft enorm. Die Ankömmlinge stammen aus Ländern, in denen seit Menschengedenken der Bazar das Zentrum der Wirtschaft ist, sei es in Damaskus oder in Addis Abeba, dessen Mercato als der grösste Markt Afrikas gilt. Egal ob Flüchtling oder Migrant, legal oder illegal: der Markt bietet ihnen den schnellen Weg zum kleinen Geld. *) 

   Der frappante Aufstieg der parallelen Wirtschaft in Rom mag ein Sonderfall sein, aber er zeigt die Richtung, in die es geht. Mit yard sales und Hof-Flohmärkten fängt es an und lässt sich kontrollieren, so lange die Wirtschaft stabil bleibt. Sobald eine Krise kommt mit Einkommens-Rückgängen, hoher Jugend-Arbeitslosigkeit und massiver Armuts-Einwanderung, dann kann die alternative Ökonomie rasch alle Bande sprengen. Wie schnell das gehen kann, zeigen UBER und AirBnB, auch ohne Krise. Nicht zu vergessen Ebay, das elektronische Äquivalent des Flohmarkts.

Benedikt Brenner

 

Update

Drei Soldaten in Zivil wurden von rund 50 Personen bedrängt, als sie in der Piazza Vittorio in Turin zwei Jugendliche aus Bangladesh stellten, die aus einem Rollgepäck voll von 60 Flaschen alkoholische Getränken verkauften. Nach Abbau der Spannung konnten die Soldaten die Ware beschlagnahmen und 14.000 Euro Geldbussen verhängen.

Update II

*)  Die Bürgermeisterin Roms, Virginia Raggi, hat angesichts der starken Präsenz von Migranten in Rom und dem kontinuierlichen Zustrom von ausländischen Bürgern das Innenministerium aufgefordert, ein Moratorium für Neuankünfte in der Hauptstadt zu verhängen.

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