Islam in Frankreich

Demografie

Der Islam ist die zweitwichtigste Religion in Frankreich. Je nach Definition schwankt die Zahl der Muslime zwischen fünf und acht Millionen bei einer Gesamtbevölkerung von 66 Millionen. Jean-Paul Gourévitch, ein führender Migrationsforscher, gibt für das europäische Frankreich 7,7 Millionen Moslems an. Etwa dreieinhalb Millionen gelten bei ihm als praktizierende Moslems, davon etwa 72.000 bis 160.000 als Salafisten und potentielle Dschihadisten  Die Polizei erklärt, sie müsste 5000 Radikale überwachen, hat aber nicht die Kapazität dafür.  Laut offiziellen Angaben  vom Dezember 2014 sind rund 1200 Einwohner Frankreichs aktive Dschihadisten, davon 390 im  Krieg in Syrien und Irak, davon 60 Tote.  Von dort sind 234 bisher zurückgekehrt, davon 185 nach Frankreich.

   Die Geschichte des Islam in Frankreich beginnt 1830 mit der Besetzung Algeriens zur Unterdrückung der Piraterie. Schon im I. Weltkrieg, vor allem aber im II. Weltkrieg kämpften Truppen aus islamischen und anderen Kolonien für Frankreich.  Der Chef der Freien Franzosen, Charles de Gaulle, versprach den Nicht-Algeriern unter ihnen als Lohn die französische Staatsbürgerschaft. Die Algerier waren damals bereits Bürger Frankreichs.

   Nach dem Krieg wollte Frankreich von dem Versprechen nichts mehr wissen. Dann kam der Algerienkrieg, den de Gaulle, nunmehr Präsident, mit einem Machtwort beendete, Algerien in die Freiheit entliess und damit 9 Millionen ehemaliger Bürger die französische Staatsangehörigkeit entzog. Warum er das tat? Weil er, um sein berühmtes Bonmot zu zitieren, nicht wolle, dass sein Wohnort Colombey-les-Deux-Eglises (Colombey der zwei Kirchen) eines Tages "Colombey-les-Deux-Mosquees" (..der zwei Moscheen) heissen werde.

   De Gaulle wusste, wovon der sprach. Noch heute haben die Musliminnen der ersten eingewanderten Generation in Frankreich 3,3 Kinder im Durchschnitt; bei der restlichen Bevölkerung sind es 2 Kinder. In den Folgegenerationen sinkt die Fruchtbarkeit  in Richtung auf das landesübliche Niveau.

   Wer ist nach französischer Definition ein Moslem?  Religion ist kein demografisches Kriterium, denn sie wird weder erfragt, noch gezählt. Also rechnet man die Einwanderer erster Generation aus islamischen Ländern plus ihrer Kinder und teilweise auch Kindeskinder zusammen, zieht religiöse Minderheiten (Christen, Juden) ab, addiert Konvertiten, und erhält so einen Begriff, der viel mit Kultur, Lebensstil, Folklore, aber nicht zwingend mit Religion zu tun hat.

   Es ist denkbar, dass die Anzahl der praktizierenden Moslems in Frankreich trotz Zuwanderung und hoher Fruchtbarkeit nicht ansteigt, weil die christlich-laizistische Mehrheitskultur eine starke Erosionskraft ausübt, die vor allem die Folgegenerationen dem Glauben der Eltern entfremdet. Während also die Minderheit der sogenannten Muslime anteilig zunimmt, kann es sein, dass die Zahl der Moscheenbesucher stagniert.

Integration

   Im Vergleich zu Deutschland fällt in Frankreich zunächst die gute Integration der Minderheiten auf. Die öffentlichen Dienste, Polizei, Militär und Bürokratie sind stark mit Afrikanern und Arabern durchsetzt. Der von den Charlie-Attentätern erschossene Polizist war nicht zufällig ein Moslem. Schon in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts offerierte sich Frankreich nicht nur als traditionelles Einwanderungsland für Arbeiter und Handwerker, sondern bot auch -- ganz anders als Deutschland --  den Eliten der Auswanderungsländer eine zweite Heimat, oft sogar politisches Asyl. Die Politiker, Intellektuellen und Künstler halfen ihren Landsleuten, zueinander zu finden, die Kultur der Heimat aufrecht zu erhalten, ihr Selbstbewusstsein zu wahren.

   Dennoch, der Brückenschlag zwischen Immigranten und Restbevölkerung gelang nur teilweise. Vor allem die jungen Menschen der zweiten und die dritten Generation entdeckten, dass sie von der Égalité der Franzosen weit entfernt waren. Das schmerzt. Wenn man den falschen (beispielsweise arabischen) Namen hat, die falsche Postleitzahl (banlieue), das falsche Gesicht (gueule d'Arabe -- Araberfresse), dann ist es schwer, fast unmöglich, einen guten Job zu bekommen. Diskriminierung brütet Hass bei jenen, die glaubten, gleich zu gleich geboren zu sein. Dies entdeckten die Français de souche, die "Blutsfranzosen" spätestens nach den jüngsten Attentaten. Nur im Ausland verschwimmen die Unterschiede: dem Marokkaner aus Frankreich, der in Amerika ein französisches Restaurant eröffnet, wird niemand sein Gesicht oder seinen Namen vorhalten. Hauptsache, sein Akzent ist französisch und sein Essen auch.

   Ist für einen jungen Araber oder Afrikaner aus den Vorstädten der soziale Aufstieg schwierig, so ist dort schon das Leben an sich für junge Frauen mühsam und gefährlich. Während der Islam einem Mann erlaubt, auch eine Frau anderer Religion zu heiraten, ist es einer Muslima verboten, einen Mann von anderer Religion zu ehelichen. Das erklärt sich aus der patriarchalischen Struktur der Religion: durch Heirat wird die Frau Eigentum des Mannes, und wenn der kein Moslem ist, verliert sie ihre Religion. Dies aber darf sie nicht, denn ein Austritt aus dem Islam ist nicht vorgesehen, gilt als Apostasie und wird prinzipiell mit dem Tode bestraft.  Von Ausstossung aus der Familie bis zum Ehrenmord reicht das Spektrum der Strafen, die eine Abweichlerin riskiert.

   Dennoch suchen und finden junge Araberinnen, "beurettes" genannt  (von "beur", slang für Araber), den Weg zur Selbstverwirklichung und den Aufstieg aus meist bescheidenen Anfängen, wie etwa Rachida Dati, aus marokkanischer Familie stammend, erst Richterin, danach Justizministerin und jetzt Europa-Abgeordnete. Ausserdem Ikone der alleinerziehenden Mütter.  Da sie anpassungswilliger und weniger zornig sind als gleichaltrige Männer, fällt Frauen der Aufstieg mitunter leichter.

Kohabitation

   "In Frankreich ist es schlimm", sagt Benoît C., ein Elsässer Unternehmer. "Die Depression, die Hoffnungslosigkeit. Jedesmal, wenn ich die Grenze nach Deutschland passiere, atme ich auf. Der Druck fällt weg. Dort sind die Menschen zufrieden, alles funktioniert. Wenn ich könnte, würde ich nach Deutschland auswandern. J'aime l'Allemagne."

   Schon lange war die Stimmung in Frankreich schlecht. Und dann die Pariser Attentate. Hinter einem Vorhang von Staatstrauer, Patriotismus und Verbrüderungsgesten zeigt sich die bedrohliche Realität: Angriffe auf Moscheen; Militär, das eingesetzt wird; eine Polizei, die aufrüstet und "Krieg gegen den Terror" verkündet; junge Araber, die ebenfalls den Krieg ausrufen, die ein Ende der Diskriminierung fordern. Imame und Islamverbände, die ihr Mitleid mit den Opfern und ihre Loyalität zur Republik beteuern, und Français de souche, die solche Beteuerungen wie üblich nicht glauben mögen.  Stimmen wie die des türkischen Premiers Ahmet Davutoglu, der die Todesopfer von Paris gegen die toten Muslime der Kriege im Irak, in Syrien und Libyen und durch die Militärherrschaft in Ägypten aufrechnet.  So sehen es auch IS und Al-Qaeda und andere, die sich bemühen, die Gräben zwischen Mehrheit und Minderheit in Frankreich zu vertiefen.

   Und dann ist da die Unsicherheit. Die Furcht. Und ein Buch "Al-Qaïda en France", das über die Geheimorganisation in Frankreich berichtet.  Skepsis verdienen stets Enthüllungen über Al-Qaeda, die Mafia oder andere Geheimbünde, wenn deren Autoren nicht unter Personenschutz stehen und immer noch leben.  Trotz der gebotenen vorsicht trifft der Bericht von Samuel Laurent den Nerv einer Öffentlichkeit, die vernommen hat, dass die Pariser Morde von Al-Qaeda im Jemen bestellt wurden.

   Der Autor behauptet in einem Gespräch in der Zeitschrift Politicodie Organisation verfüge über Scharfschützen aus Syrien, die mit Präzisionswaffen eine hochgestellte Person wie etwa Präsident Hollande aus mehreren Kilometern Entfernung töten könnten. Jeder Attentäter werde nur einmal eingesetzt und dürfe dann zu Allah auffahren. Ein Sprecher mit Decknamen Abou Hassan wird zitiert, nach dessen Angaben die Organisation zahlreiche Schläfer in Frankreich besitzt, die jederzeit bereit seien für Attentate gegen Personen oder Gebäude. Im Vergleich zu den Sicherheitsvorkehrungen der Assad-Regierung in Syrien sei der französische Staat lächerlich ungeschützt und ein leichtes Opfer. Für der Endphase der Kampagne plane Al-Qaeda eine Attentatsserie im ganzen Land, die möglichst viele Zivilopfer abschlachtet und zu breiter Solidarisierung der muslimischen Massen mit Al-Qaeda führen soll. Insiderwissen oder Delirium?

   Für die Umsicht der Organisation scheint in der Tat der Umstand zu sprechen, dass die Frauen der Kouachi-Brüder ahnungslos waren, nichts über die jahrelangen terroristischen Beziehungen ihrer Männer wussten und von den Attentaten erst mit Schrecken am Fernseher erfuhren. Eine Version, die der Polizei bislang glaubhaft erscheint.

   Die Kohabitation der Majorität mit der Minorität in Frankreich ist gefährdet. Noch gibt es in Colombey keine Moschee, aber Aussenbezirke der Industriestädte sind überwiegend von Moslems bevölkert. Viel wird davon abhängen, ob die Mehrheit der Moslems ab jetzt bereit ist, die eigenen Reihen zu überwachen und Terroristen zu melden, bevor sie zuschlagen und Dschihadisten, bevor sie abreisen können. Dabei handelt es sich weniger um die potentiellen Attentäter, sondern um die HintermännerImame und "Garagenscheichs" (Sonja Zekri, SZ), die das Fussvolk indoktrinieren und die organisatorischen Verbindungen herstellen.

   Viel wird von diesen praktischen Loyalitätsbeweisen der Minderheit abhängen. Ebenso wichtig wird eine Anti-Diskriminierungspolitik der Mehrheit sein. Es reicht nicht, Bäume in den Banlieues zu pflanzen und Autobus-Haltestellen einzurichten. Frankreich braucht eine Art von "affirmative action" amerikanischen und kanadischen Vorbilds, die kraftvoller ist als bisherige Versuche zur "discrimination positive".  Eine glaubhafte Anstrengung würde vielen helfen und Druck ablassen, selbst wenn Gegner wettern, dies sei nur eine weitere Form des Rassismus. Auch wenn die Français de souche dabei Erbhöfe verlieren würden. Der Friede im Lande und seine künftige Entwicklung sind es wert.

Heinrich von Loesch

Update

Obwohl in den Tagen nach den Attentaten Imame und Vorsitzende islamischer Vereinigungen sich bemühten, den Opfern der Anschläge ihr Mitgefühl auszusprechen; so sehr sie auch beteuerten, die Masse der Moslems sei friedfertig und verurteile die Gewalttaten, so fragte man sich doch, wie wohl die Gläubigen das Geschehen im engen Familienkreis beurteilen.  Wer Zweifel hatte, sieht sich nun bestätigt: die staatlich verordnete Schweigeminute für die Terroropfer in den französischen Schulen wurde in zahlreichen Grund- und Mittelschulen massiv gestört durch Geräusche und Rufe von "Allahu Akhbar".  Den verdutzten Lehrern wurde laut Canard enchaîné erklärt,  die Karikaturisten hätten den Tod verdient. Kindermund tut Eltern kund. Ganze Klassen in der Banlieue von Paris boykottierten die Schweigeminute. Aus dem berüchtigtenVorort Clichy-sous-Bois berichtete Le Parisien, dass einige Schüler den Terror gar für ein fake hielten, ein Komplott gegen ihre Religion. 

Nicht nur in  Paris, nicht nur in Frankreich stellt sich die Frage, wie manche Moslems das Geschehen beurteilen. Ein deutschsprachiges Internetportal wird hauptsächlich von jungen Frauen genutzt, darunter zahlreiche Muslimas. In dem politischen Forum fand in einem Thread  "Terror, Mohammed und Charlie Hebdo - je suis Charlie"  tagelang eine lebhafte Diskussion statt.  Darin konnte man neben sehr viel Vernünftigem auch lesen:

"Diese Taten wurden nicht von Muslimen verübt, diese wurden gemacht, damit man den Islam schlecht dastellt und man sich von dieser Religion und Gott, fernhält."

oder:

"WARUM WIRD IMMER DER ISLAM IN DEN SCHMUTZ GEZOGEN?? WARUM WIRD DER ISLAM BELEIDIGT???? WARUM SAGEN DIE MENSCHEN DAS DER ISLAM AN ALLEM SCHULD IST???? Warum müssen WIR immer ruhig bleiben wenn man etwas falsches über uns sagt und wenn ihr was über den Islam sagt dann nennt ihr es 'MEINUNGSFREIHEIT' !!! "

oder:

"wir sind friedlich wie alle anderen menschen aber was soll man machen wenn viele Länder usw uns provozieren? Natürlich wird dann der ein oder andere was dagegen machen & unsere Propheten zu beleidigen & irgendwelche Zeichnungen mit den man sich über den Islam witzig macht geht einfach mal garnicht !"

und:

"Die unbeteiligten, wie zum Beispiel im Supermarkt, haben mein vollkommenes Beileid und es tut mir leid.
Aber dieser Kerl, der auch verantwortlich für diese Satiren ist, nein, mit ihm nicht.
Ich weiß wie es sich für euch anhören mag, aber so sehe ich das. 
Irgendwo muss ja mal eine Grenze gezogen werden. Und wenn da jmd ist, der respektlose Karikaturen von Propheten und vielen anderen zeichnet, und über Religionen spottet, überschreitet er nunmal die grenze. Da ist es schwer Mitleid aufzubringen.... Jeder hat seine Meinung und darf sie äußern, dennoch sollte man für manche Dinge ein wenig mehr Respekt aufbringen, und das tun die Franzosen nicht.  Mal sehen was da noch so alles kommt."

Nicht begeistert von der Ankündigung der italienischen Zeitung Il Fatto Quotidiano, dass sie die Charlie-Karikaturen nachdrucken will, sind die Mitbewohner des Hauses in Rom, in dem sich die Redaktion befindet. Sie haben protestiert.

 

 

 

 

 

 

 

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