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Türkei: Wer putschte gegen wen?

 

   Niemand weiss mit Sicherheit, wer hinter dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 steckte. Präsident Recep Tayyip Erdogan behauptet, der im amerikanischen Exil lebende Prediger Fethullah Gülen sei der alleinige Urheber des versuchten Staatsstreichs. Gülen wiederum vermutet, Erdogan habe den Putsch inszeniert, um die ganze Macht an sich reissen zu können. Andere sehen traditionell laizisistische Teile des Offizierskorps, die sich als Hüter des Erbes Atatürks verstehen, als Träger des Putsches.

   Alle drei Varianten sind durchaus denkbar.

  • Dass Offiziere gegen eine islamistische Regierung putschen und dabei das Parlament bombardieren, ist in der Logik der türkischen Geschichte durchaus normal und braucht keine weitere Erklärung.
  • Dass die halbgeheime Organisation des Imams Gülen nicht nur den Staat insgesamt, sondern auch das Militär seit Jahrzehnten unterwandert hat, ist bekannt. Vor allem die kemalistischen Offiziere klagen, dass unter politischem Druck die Gülenci unter den Offizieren in den Erdogan-Jahren so systematisch gefördert wurden, dass sie tatsächlich einen Umsturz anstreben konnten.
  • Dass Präsident Erdogan einen solchen Putschversuch inszenieren könnte, ist keineswegs unglaubhaft. Erdogan strebte nach dem Bruch mit Gülen Ende 2013 energisch nach voller Kontrolle über das Militär: eine Meuterei würde ihm den Vorwand zu einer umfassenden Säuberung liefern. Damit die Sache glaubhaft aussieht, wäre die Bombardierung des Parlaments mitsamt ein paar hundert Toten sinnvoll. Dass man Erdogan zutrauen könnte, genug skrupellos zu sein, ist nach seinem rabiaten Vorgehen der letzten Wochen leider nicht von der Hand zu weisen.

   Es gibt also drei Tatverdächtige, aber keine smoking gun, die den Täter identifizieren könnte. Bislang fand man keine der üblichen Kabinettslisten, mit denen sich Putschisten gegenseitig die top jobs nach dem erfolgreichen Umsturz zuzusichern pflegen. Man weiss nicht einmal, wer Präsident und wer Premierminister geworden wäre. Es sei denn, der neue Präsident wäre der alte gewesen – dann bräuchte es keine Kabinettsliste.

   All drei Verdächtigen sind nicht von der feinen, demokratischen Sorte.

   Das Militär hat so oft und brutal geputscht, dass Erdogan die schrittweise Entmachtung des Offizierskorps in den letzten Jahren hoch angerechnet wird.

   Dass eine Demokratie nicht mit einer mächtigen und skrupellosen Geheimorganisation wie der Hizmet des Predigers Gülen existieren kann, ist plausibel. Sie zu zerschlagen, wäre in einem europäischen Land die Aufgabe des Verfassungsschutzes. Italien war in den 1970er Jahren von einer Freimaurerloge namens P2 unterwandert, die der Faschist Licio Gelli leitete. Nach Entdeckung einer brisanten Liste von fast tausend Mitgliedern wurde die Loge 1981 zerschlagen.

   In der Türkei braucht man dazu keinen Parlamentsausschuss: da macht das der inzwischen nahezu allmächtige Präsident mit Hilfe seiner AKP-Anhänger und wohl vielen Wendehälsen, die flugs von Gülenci zu Erdogan-Fans mutieren.

   Dass der einstige Reformer und als "moderat-modern" geltende Islamist Erdogan sich zum kompromisslosen Moslembruder und Machtmenschen entwickelt hat, ist eine Katastrophe für die Türkei und ihre stets wacklige Demokratie.

   Für die Theorie, dass die Gülenci den Putschversuch starteten, spricht der Umstand, dass Erdogan in den Tagen vor dem 15. Juli ein umfassendes Revirement im Militär plante, das die Machtpositionen der Gülen-Offiziere bedrohte und sie nach einer gängigen Meinung zum übereilten und schlecht organisierten Putsch quasi zwang.

   Die Annahme, dass die von Erdogan seit Jahren mit Schauprozessen verfolgten und entmachteten Kemalisten danach lechzten, sich an den Frommen zu rächen und sie in den Kerker zu werfen, wo sie nach Meinung der Säkularen hingehören, braucht keines weiteren Beweises.

   Dass Präsident Erdogan das Murren im Korps der kemalistischen und Gülenistischen Offiziere verborgen blieb, wäre nur zu erklären, wenn die Chefs seiner eigenen Geheimdienste mit den potentiellen Putschisten sympathisierten und Majestät absichtlich im Dunkeln liessen. Tatsächlich scheinen zahlreiche wichtige AKP-Funktionäre Wasser auf beiden Schultern getragen zu haben. Schlechtes Gewissen könnte nach dem Ende des Putsches viele Erdoganci zu überlauten Loyalitätsschwüren getrieben zu haben.

   Vor dem 15. Juli war Erdogans Position schwach. Die Gülenisten hatten ihre Presse benutzt, um Erdogan und seiner Familie einen üblen Korruptionsverdacht anzuhängen. Statt zu stürzen, wie erwartet wurde, behauptete sich Erdogan, verhaftete die Staatsanwälte und kickstartete einen neuen Kurdenkrieg, um die Wahlen zu gewinnen, mit Erfolg und auch dank der kampfbereiten Hilfe der PKK, die sich in Gefahr sah, im Frieden in Bedeutungslosigkeit zu versinken.

   So sicher sich Erdogan fühlen konnte, so lange er und Gülen das gleiche Ziel verfolgten – nämlich die schrittweise Islamisierung des Staates unter Erdogans Herrschaft– so bedrohlich wurde es für ihn, als sich Gülen gegen ihn stellte. Der Bruderkampf zweier Sekten musste die verbliebenen Kemalisten ermutigen, zuzuschlagen und beide Sekten zu zertreten. Dazu kam das steigende Missbehagen auch innerhalb der AK-Partei mit dem immer autokratischer werdenden Stil Erdogans. Einflussreiche Paladine wie ex-Präsident und Aussenminister Abdullah Gül und ex-Premier Ahmet Davutoglu hatte er unnötig gedemütigt: sie warten in den Kulissen auf Rehabilitierung und Rückkehr an die Macht. Vor allem Gül wäre ein idealer Nachfolger gewesen.

   Seit Jahren hing die Gefahr eines Militärputsches wie ein Damoklesschwert über der Türkei. Überraschend war für in- und ausländische Beobachter nur, dass er sich so lange nicht ereignete. Als sich die erste Nachricht von der Sperrung der Bosporusbrücken verbreitete, reagierten Inland und Ausland gleichermassen mit einem “Aha, das ist es!

   Dann aber geschah das Neue, Unerwartete: der Putsch schlug fehl. Das war ein Novum in der türkischen Geschichte. Bislang waren Staatsstreiche immer mit Präzision durchgeführt worden, zeigte das Militär der Nation, wer der Herr ist.

   Nun brach sich die Wut des Volkes auf die brutale Eigenmächtigkeit des Militärs Bahn, jubelten Millionen Islamisten, dass der Erbauer ihres erhofften Gottesreichs, Erdogan, gerettet wurde.  So hängten die Sympathisanten des Putschversuchs ihr Mäntelchen schleunigst in den neuen Wind. Als die Regierung dem Volke und der Welt Fethullah Gülen und seine Geheimgesellschaft als alleinigen Bösewicht anbot, akzeptierten das die Türken mit Begeisterung, denn alle hatten plötzlich einen Grund, den Lehrmeister im fernen Pennsylvania zu hassen, um an der angekündigten Säuberung als Säuberer, nicht als Gesäuberter teilzunehmen.

   Schwierig war die Lage der Säkularen und Kemalisten: Aus ihren Kreisen stammten die Protagonisten aller früheren Putsche, sie standen daher unter dem Generalverdacht übermässiger Nähe zu den Putschisten (wer immer das war, denn bisher weiss man ja wenig Genaues).

   Beide traditionellen Oppositionsparteien zeigten sich daher in einer gemeinsamen Kundgebung mit der Regierung demonstrativ solidarisch. Dass jetzt das Übel der Gülen-Strukturen ausgerottet wird, kann den Kemalisten nur recht sein: dann gibt es eine Organisation von Islamisten weniger. Allerdings dämmert ihnen inzwischen, dass der hundertjährige Traum von der laizistischen Türkei Atatürks ausgeträumt ist: dass an die Stelle zweier Sekten eine einzige getreten ist, die den ganzen Staat gekapert hat.

   Während sich die Nationalisten der autoritär gesonnenen MHP-Partei noch bei Erdogan lieb Kind machen und ihm helfen, ein massgeschneidertes Präsidialsystem einzuführen, greift die wichtigste Opposition, die sozialdemokratische CHP, den vor allem aus Europa geworfenen Ball auf und beschuldigt Erdogan und die AKP  “ihren eigenen Putsch” durchzuführen, indem sie unschuldige “Autoren, Journalisten und Offiziere einsperrt”. Man darf sich fragen, wie lange sich CHP-Chef Kemal Kiliçdaroglu solche Töne noch erlauben kann, ohne selbst gesäubert zu werden. Bei der Kurdenpartei HDP ist die Säuberung bereits in vollem Gange.

   Blickt man jetzt zurück auf den Putschversuch, so wallt dichter Nebel über dem Geschehen. Die von der Regierung zur Fahndung ausgeschriebenen angeblichen Haupttäter muten eher lächerlich an; nicht einmal ihre Zugehörigkeit zur Gülen-Sekte ist sicher. Zehntausende sind verhaftet worden, weil sich auf ihrem Smartphone eine Application namens Bylock fand, die angeblich der Gülen-Sekte zur geheimen Kommunikation dient.

   Peinlicherweise verriet der Entwickler und Eigentümer der App, ein Türke mit Namen David Keynes, der Zeitung Hürriyet, die App sei seit Ende 2015 – also lange vor dem Putsch – “inaktiv” . Diese Behauptung droht, den ganzen Rachefeldzug der Regierung gegen die Gülenci einstürzen zu lassen. Was nicht sein darf, kann nicht sein: prompt hat ein Staatsanwalt in Istanbul Ermittlungen gegen den Eigner der App und seinen Interviewer eingeleitet.

   Überall Nebel. Die Unfähigkeit der Regierung, mit einer überzeugenden Riege von Putschisten aufzuwarten, die sich für einen Schauprozess unter internationaler Beobachtung qualifiziert, stärkt natürlich die Gerüchte, der Putschversuch sei ein inside job gewesen. Einer, der viel zu wissen scheint, ist Selahattin Demirtaş, der Co-Vorsitzende der Kurdenpartei HDP. Er, der keiner islamistischen Tendenzen verdächtig ist und auch mit den alten Kemalisten nichts zu tun hat, erklärte am 17. Oktober, etwa 90 Abgeordnete, grossteils von der Regierungspartei AKP hätten vorab von den Putschplänen gewusst.

Some 80 to 90 deputies had prior knowledge of the coup attempt. Most of them were from the AKP. They aren’t admitting this now fearing the eruption of a political crisis. I am calling on them to reveal who was aware of the coup plans and who would be appointed prime minister [if the coup had succeeded],” Demirtaş said at his party’s parliamentary group meeting.

   Erfahrene Beobachter wie Ahmet Şık und Yavuz Baydar (Süddeutsche Zeitung, 21-10-16) vertreten die Ansicht, der Putschversuch sei gemeinsam von Gülenisten und anderen AKP-Feinden im Militär unternommen worden. Die Regierung habe sofort mit beiden Gruppen verhandelt, sie auseinander dividiert und damit den Putsch zum Scheitern gebracht. Das klingt insofern glaubhaft, als die Gülenisten im Militär zu ihren starken Zeiten die nicht-klerikalen Offiziere übel kujoniert hatten. Hass und Misstrauen zwischen beiden Gruppen waren die Folge und erlaubten der Regierung, die Meuterer zu spalten, wie Şık und Baydar meinen.

   Diese Theorie kollidiert freilich mit der umfänglichen Mitwisserschaft, die Demirtaş der AKP attestiert. Das eifrige Bemühen der Regierung, die Gülen-Leute als einzige Urheber des Aufstands zu brandmarken, zeigt, dass es etwas zu verbergen gilt, das, wäre es bekannt, “eine politische Krise” – wie Demirtaş sagt – auslösen würde.

   Falls es in den Stunden des Putsches ein Loyalitätsproblem innerhalb der AKP gab, dann muss man damit rechnen, dass es auch eine über das bisherige Mass hinausgehende Säuberung innerhalb der AKP geben wird, sobald die anti-Gülen-Kampagne abgeschlossen ist und Erdogan sich stark genug fühlt, in den eigenen Reihen “aufzuräumen”. Dann wird man wahrscheinlich in Umrissen erfahren, was am 15. Juli 2016 wirklich geschehen ist.

 

Ihsan al-Tawil

 

Update

"Parliamentary Coup Investigation Commission member and main opposition Republican People’s Party (CHP) İstanbul deputy Aykut Erdoğdu said in an interview with the Birgün daily on Monday that the ruling AKP is trying to obscure the realities behind the coup attempt on July 15 since the commission is being prevented from doing its job by “hidden hands.”

Erdoğdu said there are scores of unanswered questions about the failed coup attempt that the AKP government and President Erdoğan still have not clarified.

“They are not clarifying that [July 15] night. MİT head Hakan Fidan’s failure to inform Erdoğan [about the coup attempt], Chief of General Staff Gen. Akar’s captivity and release, prime suspect Adil Öksüz’s release after detention and Erdoğan’s statement that he was informed [about the coup attempt] by his brother-in-law have not been clarified,” he said.

“The strongest and dirtiest hidden hand [to prevent the commission from continuing its investigation] is the ‘palace’ [Erdoğan’s] hand,” Erdoğdu said.

According to Erdoğdu, the AKP and Erdoğan fear the revelation of some realities about the failed coup attempt. Erdoğdu also said the same hidden hands were preventing the commission from hearing the putschist army general.

(Turkish Minute)

Update II

Leader of the main opposition Republican People’s Party (CHP) Kemal Kılıçdaroğlu has accused the Justice and Development Party (AKP) government of laying the groundwork for a July 15 military coup attempt, saying that the brother of a senior AKP official led the abortive coup.

(Turkish Minute)

 

Update III

"Der Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND) Bruno Kahl widerspricht der türkischen Regierung mit Blick auf den Putschversuch gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan im Sommer vergangenen Jahres. "Der Putsch war wohl nur ein willkommener Vorwand", sagte Kahl dem SPIEGEL über die Säuberungswelle in der Türkei."

 

 

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