Ungeordnete Gedanken an einem Dezembertag
Harter Lockdown? Ein Witz!
Deutschlands sogenannter “harter” Lockdown ab 16. Dezember wird ein weicher, sanfter werden. Wer einen harten Lockdown will, sollte sich an Frankreich und Italien orientieren.
Da darf man die Wohnung nur in einem engen Radius verlassen und nur für Unvermeidliches: zum Einkauf nur im nächstgelegenen Supermarkt. Hundegassi nur bis hundert Meter von der Wohnung entfernt. Für jeden Gang ausser Haus ist ein Formular auszufüllrn, mit sich zu tragen und der kontrollierenden Polizei vorzuweisen, in dem der Grund für einen Apotheken- oder Arztbesuch dargelegt ist, samt ausgedruckter Bestätigung des Arztes von Termin und Diagnose.
Solange solche Regeln fehlen muss man bezweifeln, dass der deutsche Lockdown wirklich ernst gemeint ist. Wasche mir den Pelz, aber mache mich nicht zu nass!
Nagorno-Karabagh
Karabagh hat einen goldenen Namen, vor allem in Frankreich. Denn Karabaghs gelten als die vornehmsten antiken Teppiche, gleich nach den heimischen Savonnerie- und Aubusson-Teppichen. Die Karabaghs, daran gibt es keinen Zweifel, wurden von Armeniern geknüpft. So armenisch waren die Teppiche, dass sie mit von Azeris vertriebenen Armeniern in die türkische Provinz Erzurum wanderten, wo die Produktion in gleicher Qualität weiterging. Auch die antiken armenischen Teppiche aus Erzurum werden als Karabaghs gehandelt.
Der Ruhm der Teppiche lässt die Azeris nicht ruhen. Sie versuchen, sich das Thema anzueignen. Jüngstes Produkt dieses Strebens ist eine Ausstellung in Baku, in der Aserbeidschan historische Karabagh-Teppiche als nationales Erbe präsentiert. Drei Teppiche aus dem 17. und 19. Jahrhundert werden seit vorgestern stolz gezeigt, die bei einer Messe in Italien von Aserbaidschan erworben wurden und nun im Museum der Schönen Künste in Baku zu sehen sind.
Interessanterweise handelt es sich bei diesen Exemplaren nicht um die Art, die in Frankreich so hoch gehandelt wird: diese nämlich kopierten im 18. und 19. Jahrhundert erfolgreich die europäisch-klassizistischen Dessins der Savonnerien, während die Prunkstücke in Baku den orientalischen Geschmack mit Adlerkasak-, Rosenblüten- und anderen östlichen Designs bedienen. Was fraglos besser in die Welt der Azeris passt.
Äthiopien: Duell zweier Herrenvölker
Tigré und Amharen eint ein Komplex: beide halten sich für das berufene “Herrenvolk” Äthiopiens. Ein übler Begriff aus der Nazizeit drängt sich in Äthiopien tatsächlich auf, wenn man die Psyche der beiden verfeindeten Nachbarn zu verstehen versucht.
Als 1991 der kommunistische Diktator Mengistu Haile Mariam gestürzt wurde, beobachtete ich in Washington DC verblüfft, wie eine äthiopische Kollegin ausrastete. Nein, sie war keine Mengistu-Anhängerin, ganz im Gegenteil. Sie war wütend, weil die Macht in die Hände der Tigré gefallen war, deren Guerilla TPLF die Hauptstadt Addis Abeba einnehmen konnte.
Des Rätsels Lösung: die Kollegin ist Amharin. Für sie war es undenkbar, dass Äthiopien nicht von Amharen regiert wird. Vom biblischen Salomon über Menelik bis zu Haile Selassie waren die Kaiser immer Amharen gewesen. Auch Mengistu, von Herkunft wohl ein Oromo, hatte den Vorrang der Amharen, ihrer Sprache und christlichen Religion (obwohl wahrscheinlich mehr Äthiopier Moslems als Christen sind) nicht angetastet.
Nun waren die Tigré an der Macht. Auch sie Christen zwar, Nachbarn der Amharen, aber durch eine andere Sprache abgesondert. Tigrinya und amharisch sind recht verschieden, selbst so einfache Begriffe wie “Kaffee” (amharisch: unna; tigrinya: bun) unterscheiden sich.
Meine Kollegin hatte sofort begriffen: die Tigré waren in Addis angekommen um zu bleiben. Und sie blieben bis 2018, bis ein mit den Amharen paktierender Oromo, nämlich Abiy Ahmed, an die Macht gewählt wurde. Abiy ist ein in Äthiopien seltener Spezialist: ein akademischer Fachmann für interreligiöse Aussöhnung. Tatsächlich gehören die Religionen nicht zu Äthiopiens gegenwärtigen Problemen.
Die Tigré nahmen das Ende ihrer in jahrelangen Protesten untergegangenen Herrschaft übel zur Kenntnis. Statt Herren waren sie plötzlich Opfer des aufgestauten Hasses nicht nur der Amharen geworden. Sie, die stolzen Befreier Äthiopiens vom Kommunismus, das Volk mit der schlagkräftigsten Armee, sie werden nun vom fernen Addis aus regiert, wo sie nichts mehr zu sagen haben. Das konnten, das wollten sie sich nicht gefallen lassen. So kam es zum Versuch der Sezession, zur blutigen Niederschlagung des Aufstands und zu mörderischen Racheaktionen zwischen Amharen und Tigré. Gewinner des Konflikts ist das benachbarte Eritrea, dem seine Waffenhilfe für Addis eine Schlüsselrolle in der Gestaltung der Zukunft von Tigré garantiert.
Heinrich von Loesch