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Der Syrer ist des Syrers Feind

Syrien, as-Suriya, ist eines der Länder, die gerne als Wiege der Menschheit bezeichnet werden. Hier wurden Ackerbau und Viehzucht um 10.000 vor Christus erfunden. Durch bessere Ernährung den Jägern und Sammlern weit überlegen, starteten die neolithischen Syrer ihren Siegeszug nach Nordafrika, Kleinasien und Europa. Dort vermehrten sich die Ackerbauern so schnell, dass sie die einheimische Bevölkerung verdrängten und absorbierten.  Wir Europäer sind daher überwiegend Nachkommen der Syrer und anderer Einwanderer aus dem Nahen Osten.

   Syrien gehörte zahllosen Reichen der Antike und des Mittelalters an. Es war zeitweise persisch, griechisch, römisch und byzantinisch.  Sprach aramäisch und schliesslich arabisch. Hier entstanden nach Meinung führender Religionsforscher Vorläufer des Korans.

   Im Laufe der Jahrhunderte hat Syrien seine Form dauernd gewechselt. Mal gehörte ein Teil Kleinasiens dazu, mal der Nordirak, mal reichte es bis ans Rote Meer. Viele Male wurde es erobert, geteilt, unterjocht. Und dennoch blieb es eine Konstante in der Geschichte der Menschheit. Syrien gab es immer, und man wusste stets, wo es lag. Bis zum Jahr 2014. Da wurde Syrien erneut geteilt, diesmal in eine sogenannte Republik im Süden und ein sogenanntes Kalifat im Norden.

   Derzeit ist Syrien das wohl grösste Schlachtfeld der Welt. auf dem Alle gegen Alle kämpfen. Aus diesem Grunde ist Syrien der wichtigste Generator von Flüchtlingsströmen in alle Richtungen. Nach Norden in die Türkei, nach Südwesten und Süden in die Nachbarländer und übers Meer in die übrige Welt. In ihren Herzen tragen diese Menschen die Erinnerung an ein heiles Land.

Erinnerung an ein heiles Land 

Syrien, wie es sich in den frühen neunziger Jahren präsentierte:  Damaskus: eine ordentliche, wohlhabende, relativ moderne Stadt. Kein Vergleich mit dem Gigaslum Kairo. An der Magistrale Damaskus-Homs-Hama-Aleppo auf beiden Seiten Baustellen, oft Investitionen reicher Golfaraber. Zeichen einer blühenden Wirtschaft. Auffallend in den Städten Geschäfte mit Messingwaren, Glas und Lampen, syrischen Spezialitäten.  In Aleppo Schilder in russisch für die Touristen, die mit Charterflügen einschweben, um im billigen Syrien einzukaufen. Fröhliches Strandleben in Latakia, ähnlich wie im Libanon. Touristen in Palmyra. Religionsfreiheit, viele Frauen unverschleiert. Ein beachtlich starker Mittelstand pflegt französische Sprache und Kultur in Erinnerung an die Mandatszeit.

 

syrien

 Quelle: Wikipedia

   Die internationalen Medien sprachen in diesen Jahren von Wirtschaftskrise in Syrien, aber der Augenschein bewies das Gegenteil. Syrien ging es gut unter der Diktatur der Assad-Sippe. Natürlich erlaubte man sich keine Meinung, die von der des Regimes abwich. Man hatte viele Jahre lang keinen Zugang zum Internet, weil das Regime in paranoider Furcht moderne Medien nicht ins Land liess. Selbst ICARDA, ein internationales Forschungsinstitut in Aleppo, durfte lange nicht ans Internet. Seit 2012 ist es nach Beirut übersiedelt. 

   Die Assad-Diktatur war nur die letzte einer Folge von Diktaturen und benahm sich wie ein "normales" nahöstliches Regime. Hafez al-Assad umgab sich mit Verwandten und Mitgliedern seiner alawitischen Glaubensgemeinde.  Er unterdrückte die Opposition, folterte, spionierte Syrer im Ausland aus, kungelte mit der Sowjetunion, provozierte Israel, dominierte den benachbarten Libanon, liess unbequeme Politiker beseitigen, pflegte einen massiven Personenkult und galt im Westen als Ärgernis. Aber: Syrien bot 2007 rund 1,2 Millionen Irak-Flüchtlingen grosszügig Asyl, einschliesslich Gesundheitsversorgung und Schulbesuch.  Es gewährte nach alter Tradition verfolgten Exilpolitikern Unterschlupf, vom Imam von Oman (der von einem Usurpator,  dem Sultan von Muscat,  aus Nizwa vertrieben worden war)  bis zum Exilbüro der Hamas, die sich für die jahrelange Gastfreundschaft revanchierte, indem sie 2012 die Sache der Aufständischen unterstützte.

Gnadenlose Gewalt

   Wie zu erwarten, gab es eine murrende junge Generation, die die Fesseln der Bevormundung und Bedrückung sprengen wollte; die den arabischen Frühling in  Tunesien, Libyen und Ägypten als Signal, ihre Stimme zu erheben, verstand. Das Regime reagierte so, wie es das syrische Militär in der Mandatszeit von den französischen Kolonialherren gelernt hatte: Aufstände mit gnadenloser Gewalt im Blut zu ersticken.  Ausrotten ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, das war das französische Erfolgsrezept. In Syrien wie in Algerien. Ebenso behandelte Hafez Assad 1982 die aufständischen Moslembrüder in Hama, wobei zwischen 20.000 und 40.000 Menschen getötet wurden. So reagierte auch sein Sohn  Bashar, als sich 2011 Demonstranten nicht von Polizei und Scharfschützen vertreiben liessen. Das Ergebnis: der Bürgerkrieg.

   Ursprünglich nahm der Westen für die Aufständischen Partei, deren verschiedene Gruppen von arabischen Staaten, der Türkei oder Iran unterstützt wurden. Als radikale Islamisten mit auswärtiger Finanzierung die ursprünglich wenigstens teilweise säkularen Aufständischen verdrängten, kühlte sich die Begeisterung des Westens ab und mündete in die (angeblich im Pentagon vorherrschende) Erkenntnis, dass es Syrien keine Guten und Bösen, sondern nur Böse gibt.

   Diese Interpretation scheint sich auch an anderen Orten zu verbreiten. Jedenfalls lässt sich in letzter Zeit beobachten, dass die Bereitschaft, Syrien-Flüchtlinge aufzunehmen, stark abgenommen hat. Am schlechtesten behandelt Ägypten seit al-Sisis Machtübernahme die Syrer: es verdächtigt sie generell Moslembrüder oder anderweitige Islamisten zu sein. Flüchtlinge, die versuchen, per Schiff Ägypten Richtung Europa zu verlassen, werden auf See aufgegriffen und verschwinden auf Dauer in miserablen ägyptischen Gefängnissen oder werden nach Syrien deportiert, wo ihnen schlimmstes droht.

Diaspora

   Die Türkei hat 1,7 Millionen Syrer aufgenommen und generell gut behandelt, soweit es sich um Sunniten handelt. Spannungen mit Einheimischen in den Grenzprovinzen haben jedoch zu Verhärtung geführt. Die grosse Zahl syrischer Bettler und Obdachloser in Städten wie Istanbul, Izmir, Gaziantep und Iskenderun belastet zunehmend das Verhältnis. In Ankara sammelt die Polizei frei kampierende Syrer ein und verfrachtet sie zwangsweise in Lager nahe der syrischen Grenze. Zwar geben die Behörden den Syrern mittlerweile Flüchtlings-Kennkarten, doch keine Arbeitserlaubnis. Noch etwa 15 Prozent der Syrer leben in den 22 Flüchtlingslagern.  Die meisten Syrer wollen die Türkei nach Europa verlassen.

   Der kurdische Irak hat eine grössere Zahl von Flüchtlingen aufgenommen,  hauptsächlich ethnische Kurden. Die Fluchtwege zum südlichen Irak sind durch den IS versperrt.

   Der Libanon hat Anfang Januar 2015 Visa-ähnliche Vorschriften für Syrer erlassen, nachdem der Zustrom von 1,3 Millionen Flüchtlingen das kleine 4-Millionen-Land überwältigt hat. Nun verlangt die Grenzkontrolle von syrischen "Touristen" einen gültigen Pass, den Nachweis von 1200 Euro Bargeld und eine Hotelreservierung. Bedingungen, die die Bedürftigsten und die Kleinkriminellen aussperren sollen. Seit Gültigkeit der neuen Regeln ist der Grenzverkehr eingeschlafen. Doch die von den Franzosen 1943 willkürlich gezogene Grenze ist porös, und es gibt viele Schlepper.

   Jordanien geht mit den 600.000 Syrern relativ gut um, gibt ihnen aber keinen offiziellen Status und keine Arbeitserlaubnis. Viele Verwundete des grenznahen Krieges werden in jordanischen Behelfslazaretten gepflegt. Syrer müssen jedoch vorsichtig sein. Kleine Vergehen und schon der Verdacht können ausreichen, um repatriiert zu werden. Auch Verwundete und unbegleitete Kinder sollen zurückgeschickt worden sein.

   Die reichen Golfstaaten -- Saudi-Arabien, Katar, die Emirate und Oman -- haben sich geweigert,  eine grössere Anzahl syrischer Flüchtlinge aufzunehmen.

   Tunesien verhaftete und deportierte palästinensische Flüchtlinge aus Syrien, mutmassliche Islamisten, die sich geweigert hatten, im syrischen Regierungsmilitär zu dienen. Trotz des in der neuen Verfassung verbrieften Asylrechts zeigt Tunesien wenig Toleranz für Syrien-Flüchtlinge. Algerien hat Ende 2014 die Visumpflicht für Syrer eingeführt, die praktisch bedeutet, dass nur Assad-Anhänger einreisen dürfen. Viele Syrer verlassen Algerien illegal nach Marokko, wo sie freundlicher behandelt werden und auf Überfahrt nach Europa oder eine Klettertour in die spanischen Exklaven hoffen dürfen.

   Insgesamt hat sich die Lage für die Flüchtlinge verschlechtert. Die Haupt-Zufluchtsländer Libanon, Jordanien und die Türkei sind erschöpft und entmutigt. Kein Ende des Dramas ist in Sicht, an Rückkehr ist nicht zu denken. Die arabischen Staaten tragen inzwischen dem Umstand Rechnung, dass das Assad-Regime nun doch nicht fällt, sondern auf lange Sicht Syrien weiterhin offiziell vertreten wird.  Je wüster sich der IS gebärdet, desto mehr gewinnt Bashar al-Assad an Ansehen. Moslembrüder und Salafisten haben eine schlechte Presse und werden nicht mehr, wie anfänglich, im Ausland als Widerstandskämpfer heroisiert.  Die vor dem IS geflohenen Kurden werden in der Türkei misstrauisch betrachtet und ungern geduldet.

   Nach vier Jahren Bürgerkrieg werden die neuen Flüchtlinge immer ärmer. Wer wohlhabend war, ist längst im Ausland, hat dort vielleicht eine Immobilie gekauft und ist dadurch Einheimischen praktisch gleichgestellt. Die armen Schlucker, die jetzt noch kommen, bieten wenig ausser ihrer eigenen Person. Viele mussten Hals über Kopf fliehen vor den Bombardements der Assad-Luftwaffe, vor den Mördern des IS, vor den Kämpfen der Milizen untereinander. Wenn sie nicht Familie oder Freunde im Ausland haben, landen sie entweder im Lager oder auf der Strasse. Kein Ende des grossen Elends ist in Sicht, im Gegenteil.

   Wohin sollen sie gehen? Dass die Emirate und Saudi-Arabien sich weigern, Syrer in grösserer Zahl aufzunehmen, hat mit den schlechten Erfahrungen zu tun, die sie mit Palästinensern machten. Erst holten sie die Palästina-Flüchtlinge ins Land, um ihre Verwaltung und Wirtschaft aufzubauen. Die gut ausgebildeten Palästinenser waren den Emiratis und Saudis überlegen. Sie machten sich unersetzlich. Manche wurden sogar reich, wurden selbst Scheichs. Andere begannen, gegen die Monarchie zu stänkern, zu konspirieren. Die Emire haben Angst, sich mit republikanisch gesinnten Syrern ein ähnliches Problem ins Land zu holen.

Mehr Syrer nach Europa

   So bleibt in diesem Stadium der Tragödie nur noch eine Möglichkeit: die klassischen Einwanderungsländer Europa, USA und Kanada müssten eine grosse Anzahl an Syrern aufnehmen. Australien scheidet derzeit wegen seiner xenophoben Regierung aus. Organisierte Einwanderung würde einerseits die gestressten Nachbarländer Syriens entlasten, andererseits den Schlepperbanden rund ums Mittelmeer das Geschäft verderben und Tausende vor dem Ertrinken retten.

   Wie liesse sich die Einwanderung organisieren?  Relativ einfach: alle fraglichen Länder besitzen Konsulate in Ankara, Amman, Beirut, Kairo, Tunis und grossen Städten wie Istanbul und Alexandria. Das Konsularpersonal müsste zumindest zeitweilig um weitere arabisch-sprachige Beamte aufgestockt werden, um die tausende zusätzlicher Kandidaten für ein Visum zu überprüfen. Klar ist, dass Angehörige von verfolgten Minderheiten Vorrang hätten. Indem man auf Demokratieverständnis, Frauenrechte und Sprachkundigkeit prüft, könnte man versuchen, Moslembrüder, Salafisten und Integrationsunwillige auszusieben. Sicherlich würde es Probleme mit Betrug und Korruption geben, vor allem, wenn lokale Dolmetscher eingesetzt werden. Davon sollte man sich ebenso wenig entmutigen lassen, wie von der Schwierigkeit, in den Einwanderungsländern genug Unterkünfte bereitzustellen, denn jeder legale Einwanderer ist ein potentieller illegaler Einwanderer weniger. Wenn man sich schon zwingt, die Illegalen zu versorgen, dann sollte man mindestens die gleiche Fürsorge für die Legalen aufbringen.

   Es ist Zeit zu handeln.  Jetzt, und energisch.

Heinrich von Loesch

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