Asylpolitik: Europa gespalten
Vor einem kleinen Parteitag haben 80 Landtagsabgeordnete der Grünen einen Brandbrief verschickt, der die bisherige Asylpolitik der Parteiführung scharf kritisiert und die Rücknahme ihrer Zustimmung zu den Plänen zur Verschärfung des europäischen Asylrechts fordert.
Ein Problem der Grünen?
Nein, ein Problem der Europäer schlechthin. Europa ist gespalten, doch die Tiefe der Spaltung ist noch nicht sichtbar. Ein Teil der Europäer fürchtet die illegale Masseneinwanderung aus Asien und Afrika; ein anderer Teil hält es für Europas Pflicht, diese Einwanderung zu tolerieren, weil es sich um „Flüchtlinge“ beziehungsweise „Geflüchtete“ handele. Dass es sich um Menschen in Not handele sei an zwei Kriterien erkennbar: der Tatsache, dass die Migranten erhebliche Summen an Schlepper zahlen und an ihrer Bereitschaft, Gefahren für Leib und Leben zu riskieren.
Gruppe 1 der Europäer argumentiert, dass dieser Kontinent zu klein sei, um Millionen Asiaten und Afrikaner aufnehmen zu können. Jede Lockerung der Einwanderungspolitik würde die laufende Völkerwanderung enorm verstärken und Europa soziale Probleme wie beispielsweise Elendsviertel und Wohnungsnot bescheren -- wie zu besichtigen in Berlin-Neukölln oder in Rom-Prenestino. Ganz zu schweigen von den neuen Billigarbeitern, die einheimische Arbeiter verdrängen.
Gruppe 2 argumentiert moralisch, dass Europas Ethos und seine christlich bestimmte Kultur Mitleid und Toleranz mit den illegal ankommenden Fremden fordern. Ausserdem sei die Einwanderung junger Menschen mit vielen Kindern angesichts der rapide alternden und schrumpfenden Bevölkerung Europas demografisch wünschenswert und auch wirtschaftlich sinnvoll.
Die Argumente beider Gruppen sind bei genauerem Hinsehen löcherig. Beipielsweise verdient nur ein Teil der Migranten das Prädikat „Flüchtling“. Bangladeschi, Pakistaner, Sri Lanker, Ägypter, Nigerianer, Tunesier, Marokkaner stammen aus relativ sicheren Ländern und haben sich vor allem aus wirtschaftlichen Motiven oder aus Abenteuerlust auf die Reise gemacht.
Sie zurückzuschicken bedeutet, dass Europa sich möglicherweise des wirtschaftlich wertvollsten, potentiell produktivsten Teils der Einwanderer beraubt.
Beide Gruppen können also massive Argumente zur Untermauerung ihrer Position vorbringen. Was sollte Europa angesichts dieser Dichotomie tun?
Offensichtlich kommt eine Entscheidung für eine Seite ohne Berücksichtigung der anderen nicht infrage. Europa ist also zum Kompromiss gezwungen. Genauer gesagt: Europa laviert von einem Kompromiss zum nächsten; die erzielten Problemlösungen unterscheiden sich nur optisch oder marginal: Durchbrüche sind unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich.
Jahrelange Erfahrung zeigt beispielsweise, dass es unmöglich ist, die illegale Einwanderung zu bremsen. Zu Fuss, zu Wasser und teilweise sogar durch die Luft kommen die Einwanderer nach Europa.
Ebenso lange Erfahrung zeigt, dass es unmöglich ist, die Migranten nach einem von allen Ländern akzeptierten Schlüssel in Europa zu verteilen. Die Widerstände einiger Länder sind enorm. In der Praxis entscheiden die Migranten, in welchem Land sie leben wollen.
Eine neue europäeische Asylpolitik sieht Auffanglager und Prüfstellen an den Aussengrenzen des Kontinents vor. Es gehört wenig Fantasie dazu, sich auszumalen, wie viele der Migranten sich bemühen werden, die Auffanglager zu vermeiden. Alle Migranten aus „sicheren“ Ländern, alle Wirtschaftsmigranten und Abenteurer werden die Lager meiden wie die Pest, denn sie müssen damit rechnen, dass nach langem Warten ihnen Asyl verweigert wird und sie die Rückreise antreten müssen oder in ein ihnen unbekanntes Drittland abgeschoben werden.
Europa wird also mit viel Getöse und Zank mit den Gastländern Auffanglager einrichten, die weitgehend weisse Elefanten bleiben werden, und an denen vorbei die Migranten weiterhin nach Europa strömen werden.
Das Fazit der Betrachtung ist also, dass Europa weitgehend passiv die Völkerwanderung erlebt und – wie manche sagen – erleidet. So wie die USA am Rio Grande die anströmenden Latinos und anderen Fremden nicht steuern können, so erlebt und empfängt Europa passiv die ankommenden Fremden an den Grenzen von Polen und der Slowakei, an den Küsten Italiens, Griechenlands und an den Klippen von Dover.
Europas Einwanderungspolitik wird weiterhin mit Kompromissen einhergehen, weil es keine klaren Entscheidungen geben kann. Die deutschen Grünen werden voraussichtlich gespalten bleiben.
Heinrich von Loesch