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Flüchtlingskrise: Wo bleibt die Türkei?

 

 Deutschlands Flüchtlingspolitik gleicht dem Versuch, bei Hochwasser einen geborstenen Deich zu reparieren.

   Am 29. November 2015 fand in Brüssel ein Gipfelgespräch mit der Türkei statt, Ergebnisse:  Die türkische Regierung hat sich verpflichtet, ihre Grenzen besser zu schützen. Als Gegenleistung sicherte die EU dem Land eine Ausweitung der Beitrittsverhandlungen und 3 Milliarden Euro für Flüchtlingshilfe zu.

   Die Ausweitung der Beitrittsverhandlungen ist ein weitgehend symbolischer Akt, Die Türkei ist durch den demokratie- und freiheitsfeindlichen Kurs der AKP-Regierung Davutoglu weiter denn je von EU-Standards entfernt. Der Zypernkonflikt blockiert nach wie vor die Verhandlungen. Frankreich und Österreich wollen einen eventuellen Türkei-Beitritt von Volksabstimmungen abhängig machen: in den meisten Ländern Europas gibt es deutliche Mehrheiten der Bevölkerung gegen einen Türkei-Beitritt,

   Die EU und die Türkei haben einen Aktionsplan beschlossen, um den Zustrom von Flüchtlingen nach Europa einzudämmen. Zudem erhalte die Türkei 3 Milliarden Euro. Das sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Abschluss des Treffens. In dem Aktionsplan sichert die Türkei unter anderem zu, ihre Küsten besser zu schützen und gegen Schlepperbanden und Menschenhändler vorzugehen. Dazu könnte auch die EU-Grenzagentur Frontex ihren Beitrag leisten.

   "Es ist legitim, dass der Türkei von Europa geholfen wird, Flüchtlinge aufzunehmen", sagte der französische Staatspräsident François Hollande. Die Türkei müsse aber Bedingungen erfüllen, um die 3 Milliarden in mehreren Raten zu erhalten. 

   Wer von den 28 EU-Staaten wie viel der Zahlungen übernimmt, muss noch EU-intern geklärt werden. Die Kommission schlug vor, 500 Millionen beizutragen. 2,5 Milliarden müssten von den Mitgliedstaaten kommen. Deutschland wäre mit rund einer halben Milliarde beteiligt.

   So weit die Theorie. In der Praxis werden wenige EU-Regierungen einsehen, warum sie einen Aktionsplan finanziell mittragen sollen, dessen Notwendigkeit ihnen in erster Linie Deutschland mit seinem Ruf  "Flüchtlinge, kommet!" eingebrockt hat. Käme Berlin tatsächlich mit einer halben Milliarde Anteil am Aktionsplan weg, so wäre das der Deal des Jahres. Doch der Plan von Schäuble, Merkel & Co., die Kosten des Desasters der EU aufzubürden, dürfte scheitern. 

   Das weiss man sicherlich auch in Ankara. Deswegen wird man sich wenig Hoffnungen machen, mehr als  nur einen Teil dieses Geldes zu sehen. Was kann man tun, um Deutschland und die EU unter Druck zu setzen? 

   Ganz einfach: Man verzögert die Umsetzung des Aktionsplans. Wenn weiterhin 3000 oder 4000 Bootsleute pro Tag auf den griechischen Inseln ankommen, wird sich in Berlin irgendwann etwas bewegen. Dafür sorgt schon Seehofer.

   Tatsache: von der Eindämmung des Zustroms von Migranten und der Bekämpfung der Menschenschmuggler ist bislang wenig zu sehen. Nun kommen ausser den Syrern, Irakern und Afghanen auch Algerier und Marokkaner an, deren Chancen auf Asyl bei Null liegen. Warum fängt die Türkei sie nicht bei der Einreise ab und schickt sie postwendend zurück, so wie es die Italiener seit Monaten tun? Auf die Visa-Freiheit für Nordafrikaner sollte sich Ankara nicht herausreden.

   Will Ankara erst das Geld sehen, bevor es handelt?  Das wäre der günstige Fall. Im schlechten Fall kann sein, dass Davutoglu das Geld zwar gerne einsteckt, aber nichts zu tun gedenkt. Warum sollte er auch? Es liegt doch im Interesse der Türkei, so viele Migranten wie möglich an Griechenland und Bulgarien loszuwerden. Warum also die Schlepper bekämpfen, die doch im nationalen Interesse arbeiten?

   Während an der westtürkischen Küste weiterhin Reisefreiheit herrscht, hat sich die Lage an der türkisch-syrischen Grenze geändert. Dem Beispiel des Libanon und Jordaniens folgend, lässt die Türkei, soweit sie die Grenze kontrolliert, keine Syrer mehr ins Land.  Die neue "Das Boot ist voll" - Politik Ankaras kontrastiert mit der ehemaligen Haltung des Premierministers und nun Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der die Sunniten Syriens wie Brüder behandelte und 2,2 Millionen Unterschlupf gewährte. Diese Gastfreundschaft hat durchaus Tradition: man erinnere sich, dass Syriens Präsident Bashar al-Assad nach der Besetzung des Irak 2003 grosszügig über eine Million irakischer Flüchtlinge als visafreie "Besucher" aufnahm, sich aber 2007 gezwungen sah, den Zustrom der Iraker wegen Überfüllung zu blockieren.

   Die meisten Iraker haben Syrien längst verlassen, sind heimgekehrt. Die Chancen, dass die Syrer in der Türkei irgendwann zurückkehren können, haben sich seit der russisch-iranischen Intervention zugunsten Assads noch einmal verschlechtert. Für die Flüchtlinge bedeutet das: entweder in der Türkei zu bleiben, türkisch zu  lernen und zu versuchen, als eine rechtlose und ausgebeutete Unterklasse von Arbeitnehmern zu überleben, oder weiter zu wandern, vor allem nach Europa: vorzugsweise nach Deutschland, da Schweden ja nun dicht ist. Noch dazu sind die Aussichten schlecht: auch Deutschland wird sich bald abriegeln, glauben die Flüchtlinge.  Und in der Türkei drohen Massnahmen gegen obdachlose Syrer, gegen Bettelei und Flüchtlingsprostitution, vor allem in den Grenzprovinzen und Grosstädten. 

   Kein Wunder, dass vor allem die Syrer immer verzweifelter gegen das Bollwerk Europa anrennen, so lange die Türken sie ziehen lassen. Nur eine wirksame Blockade der türkischen Seegrenze zu Griechenland und der Landgrenzen zu Griechenland und Bulgarien könnte die Migranten abschrecken und sie zwingen, auf der Suche nach einer Überfahrt nach Ägypten oder Libyen auszuweichen. 

   Ob es den Türken oder auch gemeinsam mit der europäischen Agentur Frontex gelingen würde, die rund 700 Kilometer lange Luftlinie der Seegrenze von Samothraki bis Rhodos zu kontrollieren, ist allerdings mehr als fraglich. Jede Massnahme zur Sicherung der Grenze würde die Überfahrt nur teurer, länger und gefährlicher machen.

   Bislang ist ein Wille der Türkei, wenigstens den Bootsverkehr zu den nächstgelegenen Inseln Samos, Chios und Lesbos zu blockieren, nicht zu erkennen. Der griechische Vizeminister  Ioannis Mouzalas kritisierte Ende Dezember, dass die Türkei Griechenland "mit Flüchtlingen bombardiert". "Wir haben trotz Windstärke sechs bis sieben ein Bombardement von 4000 Ankünften pro Tag", sagte er laut Focus. 

   Sollte sich die Haltung der Türkei nicht ändern, so bleibt der EU nichts übrig, als das Abkommen von Brüssel zu annullieren. Kein Geld, keine Beitrittsverhandlungen, keine Visa-Erleichterungen. Das Gespann Erdoğan - Davutoglu versteht nur die Sprache der Härte, die es selbst im neuen Kurdenkrieg demonstriert. Dann muss sich die EU -- vor allem Berlin -- andere Ideen für die Reparatur des Deichs einfallen lassen.

   Oder Platz schaffen für die nächste Million. 

Heinrich von  Loesch

 

Update

 "Ich hege die starke Befürchtung, dass die türkischen Menschenschmuggler Unterstützung von den Behörden bekommen. Vor allem die Hafenbehörden tun so, als ob sie nichts mitbekämen", sagte der griechische Präsident Prokopis Pavlopoulos der "Süddeutschen Zeitung".

 

 

 

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