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Putins Furcht vor der Ukraine

 

Putin hat Angst. Das ist offensichtlich. Er isoliert sich mehr und mehr, lebt in einer Blase, wie viele Beobachter berichten. Er kann zwar Alexej Nawalny und andere Kritiker einsperren, aber die kräftigen Schläge, die ihm der Dissident versetzt hat, wirken weiter.

Jahr für Jahr wachsen junge Menschen heran, die Internet-affin sind und mit der Welt außerhalb von Putinia korrespondieren.  Je mehr Putin und seine Clique jede Form der Opposition unterdrücken, desto gefährlicher wird die Situation für ihn. Der Druck im Topf steigt, da dank der fortschreitenden Gleichschaltung der russischen Medien das Manometer nicht mehr funktioniert.

Putins Albtraum ist es laut Michael van Landingham, wie Ghaddafi zu enden, erschossen in einem Graben, oder wie Ceausescu, hingerichtet mitsamt seiner Frau. Von den Marmorsälen des Kremls zum schießenden Peloton ist es vielleicht nur ein Schritt, und Putin weiß, dass er den Kopf besser nicht in den Schoß seiner Untertanen legen sollte.

In dieser eher verzweifelten Situation stellt sich Putin das Problem der Ukraine. Er selbst betont immer wieder, dass die Ukraine gar kein eigenständiges Land sei, sondern ein integraler Bestandteil des historischen Russlands. Für ihn gibt es keine ukrainische Kultur und keine ukrainische Sprache, sondern nur einen russischen Dialekt.

Putin übersieht dabei, dass das Argument in beiden Richtungen funktioniert. Wenn die Ukraine eine russische Provinz ist, dann steht sie für ein Russland ohne Putin. Genauso wie Taiwan für ein China ohne Kommunismus und Xi Jinping steht.

Da Taiwan nicht nur freier, sondern auch wesentlich reicher als China ist, muss Peking die wirtschaftliche Anziehungskraft der Insel fürchten. Nicht so im Fall der Ukraine. Sie steht für ein anderes, freieres Russland, aber nicht für ein reicheres. Nach Angaben der Weltbank lag das russische Pro-Kopf-Volkseinkommen im Jahr 2020 bei 10.127 Dollar, das der Ukraine bei 3.727 Dollar.  Ein enormer Unterschied, der zu einem guten Teil auf Russlands profitable Öl- und Gasexporte zurückzuführen ist.

Wo also liegt das Problem?

Putin ist bekannt dafür, langfristig zu denken. Wenn er das tut, sieht die Lage Russlands bei weitem nicht so rosig aus, wie sie auf den ersten Blick erscheint.

Wie Saudi-Arabien und die Emirate muss auch Russland die Trendwende auf dem Markt für fossile Brennstoffe fürchten. Die erneuerbaren Energieträger machen Jahr für Jahr Fortschritte in Bezug auf Rentabilität und Marktanteil. Die russische Wirtschaft ist ebenso wie die der Emirate im Niedergang begriffen.

Die Ukraine hingegen strebt eine immer engere Bindung an den Westen an, was letztlich zu einer Mitgliedschaft in der EU führen könnte.

An Rumänien und Bulgarien kann Putin sehen, was die Zugehörigkeit zur EU bedeutet. Selbst das arme Bulgarien erreicht ein Pro-Kopf-BIP von 10.679 Dollar, also das Niveau Russlands und Chinas.

Auch ohne NATO-Mitgliedschaft wäre die Aufnahme der Ukraine in die EU eine vernichtende Niederlage für Putin. Denn dann kann man sich ausrechnen, wann die Ukraine zum Wohlstand von Bulgarien aufschliessen könnte.

Ein zweites, Putin-freies Russland mit einer leuchtenden Hauptstadt Kiew würde die 144 Millionen Bürger Russlands zum Nachdenken zwingen.

Heute ist die Ukraine (41 Millionen) in vielerlei Hinsicht immer noch eine Fotokopie von Russland. Die gleiche korrupte Politik, die gleichen Oligarchen, die mit den Politikern kungeln. Alle betonen brav die Unabhängigkeit und geben sich nationalistisch, während etliche Entscheidungsträger wohl auf beiden Schultern tragen und sich in Moskau rückversichern.

Schon die blosse Vorbereitung auf eine EU-Kandidatur würde - wie man bei vielen Kandidaten-Staaten sah - den schrittweisen Abbau von Korruption und den Ausbau des Rechtsstaats verlangen.

Ein westlich orientiertes, wirtschaftlich aufstrebendes, weniger korruptes und Putin-freies zweites Russland vor der Haustür wäre ein Gau für den Kreml.  Es ist schwer vorstellbar, dass das System Putin diese Herausforderung lange überleben würde.

Kein Wunder, dass Putin Angst hat. Er ist noch jung, er will noch lange leben. Solange er lebt, muss er regieren, aber je länger er regiert, desto mehr Feinde schafft er sich, die ihn verfolgen würden, sobald er die Zügel schleifen lässt.  

Was also ist zu tun?

Die Ukraine in den Griff zu bekommen, solange sie noch arm und schlampig ist, solange sie noch weit von der EU entfernt ist. Es darf kein zweites erfolgreiches und Putin-freies Russland geben!   

                                                                                                                             Heinrich von Loesch                                                                    


Update


Putins wahre Angst, so scheint es sicher, sind nicht die NATO-Raketen in der Ukraine. Vielmehr fürchtet er einen sicheren Hafen für demokratische Werte vor seiner Haustür. Er fürchtet eine verwandte Kultur, die sich dem Aufbau einer auf diesen Werten basierenden Gesellschaft verschrieben hat. Warum muss sich Kiew an den Westen wenden, um diese Werte zu sichern? Weil Putin die Zerstörung dieser Werte zu seinem Vermächtnis gemacht hat.

 

Update II

Hier der Inhalt des amerikanischen Briefs an die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet:

 

In dem von Bathsheba Crocker, der US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen in Genf, verfassten Brief heißt es: "Ich möchte Sie auf beunruhigende Informationen aufmerksam machen, die die Vereinigten Staaten kürzlich erhalten haben und die darauf hindeuten, dass Menschenrechtsverletzungen und -missbräuche im Anschluss an eine weitere Invasion geplant sind."
"Diese Handlungen, zu denen bei früheren russischen Operationen gezielte Tötungen, Entführungen/zwangsweises Verschwindenlassen, ungerechtfertigte Inhaftierungen und die Anwendung von Folter gehörten, würden sich wahrscheinlich gegen diejenigen richten, die sich den russischen Aktionen widersetzen",
heißt es in dem an die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, gerichteten Brief.
Laut Crocker würde das russische Militär unter anderem russische und belarussische Dissidenten im ukrainischen Exil, Journalisten und Anti-Korruptions-Aktivisten sowie "gefährdete Bevölkerungsgruppen wie religiöse und ethnische Minderheiten und LGBTQI+-Personen" ins Visier nehmen.
"Insbesondere haben wir glaubwürdige Informationen, die darauf hindeuten, dass die russischen Streitkräfte Listen von identifizierten Ukrainern erstellen, die nach einer militärischen Besetzung getötet oder in Lager geschickt werden sollen",
heißt es in dem Schreiben, und weiter, dass die Regierung Biden auch über Informationen verfügt, die darauf hindeuten, dass die russischen Streitkräfte wahrscheinlich "tödliche Maßnahmen" einsetzen würden, um friedliche Proteste oder andere "friedliche Übungen des vermeintlichen Widerstands der Zivilbevölkerung" zu unterdrücken.
Das Schreiben wurde am Sonntagabend an das UN-Menschenrechtsbüro OHCHR in der Schweiz weitergeleitet.

 

Update III

"Wenige Wochen vor der möglichen Verleihung des Status eines offiziellen EU-Beitrittskandidaten an die Ukraine hat Russland seine Position in dieser Frage geändert. Noch Anfang April erklärte sich Moskau bereit, den Prozess nicht zu behindern. Doch nun kommen ganz andere Töne aus dem Kreml. So sagte der stellvertretende Ständige Vertreter Russlands bei den Vereinten Nationen, Dmitri Poljanski, in einem Interview mit dem britischen Online-Magazin "Onherd", Moskau sehe keinen Unterschied mehr zwischen dem möglichen Beitritt der Ukraine in die Europäische Union und dem in die NATO."     (NTV, 13.5) 

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