Türkei: Warum jetzt die Todesstrafe?
Nach dem -- angesichts der massiven Manipulationen -- schmählich schlechten Wahlergebnis stürzt sich Präsident Erdogan in die nächste Attacke auf die Reste der westlichen Zivilisation in der Türkei. Mit der Einführung der Todesstrafe würde er ein Versprechen an seinen Koalitionspartner einlösen. Der Chef der Rechtsaussenpartei MHP Devlet Bahceli hatte als Preis für sein Ja zur Präsidialverfassung die Todesstrafe für den inhaftierten Kurdenführer Abdullah Öcalan gefordert. Dass dieser immer noch existiert und aus dem Gefängnis heraus die Terroristen der kurdischen PKK leitet und in der türkischen Politik indirekt mitmischt, ist den Ultra-Nationalisten verhasst.
Doch es ist nicht nur Koalitionstreue, die Erdogan antreibt. Auch er ist Nationalist. Auch er würde Öcalan gerne in die Geschichtsbücher verbannt sehen, so wie die getöteten Gewalttäter Saddam Hussein und Muammar Ghaddafi, nach denen heute kein Hahn mehr kräht. Doch für ihn hat die Todesstrafe primär eine religiöse Bedeutung. Sie stellt die Grenzlinie dar, an der sich der christlich dominierte Westen vom salafistisch inspirierten Osten und Süden scheidet. Das westliche Katzenkonzert, das die Wieder-Einführung der Todesstrafe in der Türkei begleiten wird, kann Erdogan nur mit tiefer Genugtuung erfüllen. Er hat ja im Wahlkampf versprochen, Europa zu bestrafen für seine Missachtung der Türkei und die angebliche Misshandlung der Türken.
Mit einem Referendum zur Todesstrafe könnte Erdogan testen, wie weit die Türken inzwischen bereit sind, in einem sunnitischen Gottesstaat nach iranischem Modell zu leben. Ein lautes Ja zur Todesstrafe – die in vielen Bevölkerungen zum Leidwesen der Humanisten und Juristen ohnehin populär ist – würde Erdogan zu weiteren Schritten in der Klerikalisierung des Rechtswesens ermutigen, beispielsweise der stärkeren Ausrichtung des Straf- und Zivilrechts auf Prinzipien der Scharia und der Einführung einer Polizei zur Wahrung der Tugend und Bekämpfung der Sünde nach saudisch-iranischem oder Hamas-Modell.
Ausserdem würde ihm die Todesstrafe eine Möglichkeit geben, sich der wichtigsten Gegner – vor allem der Gülenisten und kurdischen Aktivisten – dauerhaft zu entledigen. Dass er ihre Verhaftung nur als eine Übergangslösung ansieht, hat er ja deutlich kundgetan. Auch in dieser Hinsicht imponiert ihm das iranische Vorbild.
Es ist die Zeit gekommen, das tradierte Bild, das sich die Welt von Erdogan gemacht hat, zu revidieren. Der tüchtige Bürgermeister von Istanbul, der milde Islamist von 2003, der erfolgreiche Wirtschaftsführer bis 2014 – das ist der Erdogan, der sich der Öffentlichkeit eingeprägt hat. Jahrelang beobachtete ihn die kemalistische Garde der alten Türkei mit Misstrauen. Ein Islamist, der den Pluralismus fördert und mit seinem Land Europa beitreten will, schien ihnen wenig glaubhaft.
In der Tat: Recep Tayyip Erdogan hatte aus der Katastrophe seines Ziehvaters Necmettin Erbakan gelernt, den das Militär 1997 als Premierminister absetzte und dessen Wohlfahrtspartei verbot. Jahrelang spielte Erdogan mit seiner auf Erbakans Trümmern errichteten AK-Partei den modernen, milden Islamisten im Duett mit seinem gleichfalls sich milde und modern gebärdenden Weggenossen Fethullah Gülen. Beide hatten ebenso wie Erbakan nichts anderes im Sinn als die Macht zu erringen und danach die Türkei umzukrempeln. Nur einer gelangte ans Ziel: Erdogan.
Bei aller Geradlinigkeit, mit der er über die Jahre hinweg seinen Weg verfolgte, hat auch er selbst sich gewandelt. Aus seiner Rhetorik geht hervor, dass er sich zunehmend radikalisiert hat. Der Einfluss des militanten Salafismus hat nicht nur das religiöse Klima in der Türkei geändert: er ging auch an Erdogan nicht spurlos vorüber.
Die Stärke und das Beharrungsvermögen der al-Qaeda, der Aufstieg des Daesh (IS) und die Proklamation des Kalifats durch einen – in Erdogans Augen – nobody müssen auf ihn tief gewirkt haben. Die Neigung der Araber, die Türkei als ein stilles Altwasser aus ihrer tumultgeladenen Welt auszuklammern, hat ihn verletzt. Dass er nicht zur Araberliga zugelassen wird während Djibouti und Somalia Mitglieder sind, ist für ihn unverständlich. Er möchte der unbestrittene Führer der Umma sein, der Gemeinschaft zumindest aller Sunniten, wenn nicht aller Moslems.
Um sich in diesem Umfeld zu behaupten, ist ein “milder” Islam albanischen oder bosnischen Typs nicht mehr gefragt. Der war Mode in den ersten Jahren der Erdogan-Herrschaft, als es darum ging, die Wirtschaft zu fördern und das Misstrauen des Westens und des Militärs abzubauen. Jetzt geht es um mehr: um die Stabilisierung einer islamischen Herrschaft in einem Land, das wichtig genug ist, die Führungsrolle weltweit beanspruchen zu können. Das erfordert, dass man sich in der Glaubensintensität nicht all zu sehr von Daesh & Co rechts überholen lassen darf.
Deswegen wird die Türkei in den kommenden Jahren einen crash course in politischem Islam absolvieren müssen. Ob es will oder nicht, wird das Volk seinem Führer folgen müssen: wie das geht, haben der Ausnahmezustand und das eben erfolgte Referendum gezeigt.
Ihsan al-Tawil