Idomeni am Brenner?

   Es ist erstaunlich, mit wieviel Blauäugigkeit manche Zeitgenossen die Flüchtlingskrise kommentieren. Da ist zum Beispiel Guntram Wolff, der Direktor des Wirtschaftsforschungs-Instituts Bruegel in Brüssel. Er liefert Ratschläge, wie die EU agieren sollte, damit das EU-Türkei-Abkommen zum Erfolg führt. (Wie der Deal funktionieren kann. SZ, 27. 4.)

   Schon die Grundlage seiner Ideen ist falsch: Der Rückgang der Flüchtlingszahlen auf der Balkanroute hat nichts mit dem Abkommen zu tun: er ist das Ergebnis der Sperrung der Route und der Erkenntnis potentieller neuer Migranten, dass Griechenland nun eine Sackgasse ist, eine zunehmend unerfreuliche. Wenn man der Türkei helfen will. Flüchtlinge zu beherbergen, so ist das humanitär gerechtfertigt aber unwirksam, was Flüchtlingsbewegungen, Schlepper und griechische Inseln anlangt. Der von Wolff so freudig begrüsste “Deal” ist obsolet; der Zaun zwischen Idomeni und Gevgelija hat ihn überflüssig gemacht.

   Wenn sich Kanzlerin Merkel immer noch um die Gunst der Türken bemüht, so klingelt sie an der falschen Adresse. Das neue Spiel ist wieder als alte: Libyen-Ägypten vs. Italien-Malta. Und damit sind Wolffs Empfehlungen sinnentleert. “Die EU muss jetzt Griechenland grosszügig helfen”, schreibt er. Warum? Knapp 50.000 Flüchtlinge und Migranten sitzen in Hellas fest, die Mehrzahl erbittet Asyl. Das ist kein grosses Problem für ein 11-Millionen-Land, das im Jahr 20.000 Einwohner verliert. Forderungen wie “Die EU muss...” gelten nicht mehr. In Sachen Flüchtlinge und Migranten gibt es keine EU mehr. Das müsste man in Brüssel almählich begreifen. Es gibt nur noch einzelne Staaten, die allesamt – mit teilweiser Ausnahme Deutschlands – keine Flüchtlinge mehr aufnehmen wollen. Oder wenn, dann nach dem Vorbild der USA oder der Schweiz nur in homöopathischen Dosen. Griechenland helfen?  Solche Vorschläge ignorieren, dass die ewige Griechenpleite und die Reformresistenz seiner Regierungen die einstige philhellenische Begeisterung sogar in Frankreich gründlich erodiert haben.

   “Unter dem gegenwärtigen Programm sollen bis Mitte Mai mindestens 20.000 Menschen aus Griechenland in andere EU-Länder umgesiedelt werden. Dies reicht jedoch nicht.” Bon dieu! Wie kann man sich in Brüssel solchen Träumen hingeben? Die “anderen EU-Länder” kalkulieren knallhart, dass sie nur eine neue Lawine von Bootsleuten in der Ägäis lostreten würden, wenn sie Griechenland Flüchtlinge abnehmen, denn damit würden sie die Tür nach Europa erneut öffnen. Man sollte den Hellenen zwar helfen, die 50.000 human unterzubringen, aber abnehmen darf man sie ihnen nicht.

   “Die EU-Mitglieder müssen ihren Verpflichtungen...nachkommen...” Die EU-Mitglieder denken nicht im Traum daran. Die Visegrad-Staaten mauern, Ostdeutschland rebelliert, Norwegen bietet jedem Flüchtling 1200 Euro, wenn er das Land verlässt… Dänemark, Schweden, Grossbritannien, Spanien, Frankreich… Bleiben Deutschland und Italien, letzteres weil seine Seegrenzen weit offen sind und eine internationale Rettungs-Armada dort die Geretteten ablädt.

   Man sollte in Brüssel, anstatt über die Türkei zu sinnieren, lieber überlegen, wie man Italien helfen kann zu verhindern, dass der Brenner und die anderen Alpenpässe das nächste Idomeni werden. Der Schlauch Bozen-Brenner bietet genug Möglichkeiten, Eisenbahn, Autobahn und Strasse zu kontrollieren. Italien hat genug unterbeschäftigte Carabinieri, Vigili und Poliziotti aller Art, um Kontrollen durchzuführen und sicherzustellen, dass die Österreicher nicht wegen einer Migrantenflut den Brenner sperren, was sie fraglos nach dem jetzigen Rechtsruck in Wien tun würden.

   Der Brenner ist nicht nur Italiens wichtigste Nabelschnur zur Welt; solange bekannt ist, dass die Südtirolpassage für Migranten offen ist, werden überladene Boote Nordafrika auf Suche nach dem nächsten Rettungsschiff oder einem Zipfel Europas verlassen. So lange man irgendwie als Migrant von Bozen nach Österreich und weiter nach Deutschland gelangen kann, werden die Schleuser am Hauptbahnhof Mailand aktiv sein. Kommen ihre Kunden verzweifelt und schimpfend zurück, werden sie verschwinden.

   Vielleicht gibt es ja doch irgendwann eine libysche Regierung und europäische Konsulate in Tripolis, wo echte Flüchtlinge Visa erhalten und per Flugzeug reisen können.

Benedikt Brenner

 

 

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