Jetzt wird Putin gefährlich

 

Dass der Krieg in der Ukraine nicht so läuft, wie sich das Wladimir Putin vorgestellt hatte, ist offenkundig. Russland muss starke Verluste an Menschen und Material hinnehmen, stösst an Grenzen und verliert zusehends die Initiative auf dem Schlachtfeld an die Ukraine.

Doch das ist nur die sichtbare Oberfläche des Konflikts. Darunter liegen drei Schichten, auf denen sich die Auseinandersetzung weitgehend unsichtbar vollzieht

  •  Technik/ Rüstung
  •  Wirtschaft
  •  Propaganda.

 

Technik/ Rüstung

Auch hier hat Putin wenig Glück. Peinlich für den Aggressor ist, dass Russlands Rüstung bislang von dem westlichen Kriegsmaterial der Ukraine technisch deklassiert wird. Peinlich auch, dass Moskau Drohnen im Iran kaufen muss, Waffen und Munition in Nordkorea bestellt. Dabei kann Putin noch von Glück reden, dass die Ukraine nur beschränkt Rüstungsmaterial vom Westen erhält, weil

-- man Putin nicht unnötig reizen will

--  weil man keine schweren, modernen Angriffswaffen liefern will

-- weil man Rüstungsgüter zur eigenen Verteidigung zurückhält

-- weil man seit dem Ende der Sowjetunion kräftig abgerüstet hat und daher die Bestände gering, veraltet und die Lager leer sind.

Peinlich für den Westen, dass ein begrenzter Territorialkrieg zeigt, wie schnell die Rüstungswirtschaft überfordert ist, wie wenig Spielraum über das Allernotwendigste hinaus existiert. Nicht nur in Russland, auch im Westen laufen Rüstungsfabriken derzeit wahrscheinlich 24 Stunden am Tag, um die Kriegsparteien in der Ukraine zu versorgen.

 

Wirtschaft

Seit dem 24. Februar haben sich über 1000 internationale Unternehmen aus Russland grossteils zurückgezogen, doch etwa 200 solche Unternehmen sind geblieben und verschleiern das mit Tricks und Lügen. Dennoch wird die Wirkung der Abwanderung der ausländischen Gesellschaften auf 40-45 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts geschätzt.

Zwei Institutionen haben die Auswirkungen der westlichen Sanktionen auf Russlands Wirtschaft ermittelt:


-- Der Weltwährungsfonds IMF

-- Die Yale School of Management 

Während der Währungsfonds sich auf eine oberflächliche Betrachtung unter Einbeziehung Putin’scher Darstellungen beschränkt hat, sind die 42 Yale-Analysten tief in die Materie eingedrungen. Ihr 150-Seiten-Bericht ist sicherlich in Moskau gelesen worden und hat auch dem Kreml wahrscheinlich manche neue Einsicht vermittelt.

Das Ergebnis widerspricht der IMF-Beurteilung, dass sich auf manchen Sektoren die russische Wirtschaft auch dank der enormen Einnahmen aus Export von Öl und Gas überraschend widerstandsfähig erwiesen habe.

Daraus leiten übrigens Putin und die Pro-Putinisten Europas ihre Forderung ab, die Sanktionen aufzuheben, da sie „den sanktionierenden Ländern mehr schaden als Russland“.

 Diejenigen, die behaupten, dass die Sanktionen keine Auswirkungen auf Russland haben, sind in wirtschaftlicher Hinsicht völlig unwissend und geopolitisch bösgläubig"., sagt  Carlo Alberto Carnevale Maffè, Dozent an der Fakultät für Management der Universität Bocconi.

Jeffrey Sonnenfeld, der Leiter der Yale-Studie jedenfalls kommt zu Schlüssen, die denen des Währungsfonds entgegengesetzt sind:

- Russlands strategische Positionierung als Rohstoffexporteur hat sich unwiderruflich verschlechtert, da das Land nun aus einer Position der Schwäche heraus handelt, da es seine einstigen Hauptmärkte verloren hat, und vor großen Herausforderungen steht, wenn es eine "Drehung nach Asien" mit nicht verwertbaren Exporten wie z.B. Gas in Pipelines durchführen will.

- Trotz einiger verbleibender undichter Stellen sind die russischen Importe weitgehend zusammengebrochen, und das Land steht vor großen Herausforderungen bei der Beschaffung wichtiger Inputs, Teile und Technologien von zögerlichen Handelspartnern, was zu weit verbreiteten Versorgungsengpässen in der heimischen Wirtschaft führt.

- Trotz Putins Wahnvorstellungen von Autarkie und Importsubstitution ist die russische Inlandsproduktion völlig zum Erliegen gekommen, da keine Kapazitäten vorhanden sind, um verlorene Unternehmen, Produkte und Talente zu ersetzen; die Aushöhlung der inländischen Innovations- und Produktionsbasis Russlands hat zu steigenden Preisen und Verunsicherung der Verbraucher geführt

- Infolge des Rückzugs der Unternehmen hat Russland Unternehmen verloren, die etwa 40 % seines BIP ausmachen, wodurch fast alle Auslandsinvestitionen der letzten drei Jahrzehnte zunichte gemacht wurden und eine noch nie dagewesene gleichzeitige Kapital- und Bevölkerungsflucht zu einem Massenexodus der wirtschaftlichen Basis Russlands geführt hat.

- Putin greift zu offensichtlich unhaltbaren, dramatischen fiskalischen und monetären Interventionen, um diese strukturellen wirtschaftlichen Schwächen zu glätten, was bereits dazu geführt hat, dass sein Staatshaushalt zum ersten Mal seit Jahren defizitär ist und seine Devisenreserven trotz hoher Energiepreise aufgebraucht sind - und die Finanzen des Kremls befinden sich in einer viel, viel schlimmeren Notlage, als gemeinhin angenommen wird

- Die russischen Finanzmärkte als Indikator sowohl für die gegenwärtige Lage als auch für die Zukunftsaussichten sind in diesem Jahr trotz strenger Kapitalverkehrskontrollen die am schlechtesten abschneidenden Märkte in der ganzen Welt und haben eine anhaltende, anhaltende Schwäche der Wirtschaft mit einer schrumpfenden Liquidität und Kreditvergabe eingepreist - zusätzlich zu der Tatsache, dass Russland von den internationalen Finanzmärkten weitgehend abgeschnitten ist, was seine Fähigkeit einschränkt, die für die Wiederbelebung seiner verkrüppelten Wirtschaft erforderlichen Kapitalpools anzuzapfen.

Zusammenfassend lässt sich sagen:

Russlands Exporte und Importe sind auf seinem wichtigsten Markt, Europa, erheblich zurückgegangen, während Wladimir Putins "Schwenk nach Asien" scheitert. Zweitens fehlen den russischen Herstellern aufgrund massiver Unterbrechungen der Lieferkette Teile. Drittens: Die Stimmung der Verbraucher hat sich verschlechtert. Viertens haben mehr als 1.000 ausländische Unternehmen Russland verlassen, was etwa 45 % des BIP des Landes entspricht. Und schließlich sind die russischen Staatsfinanzen durch die Sanktionen stranguliert, während die Devisenreserven des Landes schwinden.

 

Propaganda

Trotz eines enormen Aufwands an Trolls, die in Russland und in den Zielländern arbeiten, ist es Putin bisher nicht gelungen, den Schalter der öffentlichen Meinung von der Unterstützung der Ukraine zur Unterstützung Russlands umzulegen. Nur im traditionell russophilen Serbien sind sich Regierung und Öffentlichkeit einig in der Unterstützung des russischen Kriegs.

Dennoch ist klar, dass die Angst vor Mangel an russischem Gas und kalten Wintermonaten in Europa wirkt. Die Trolls hetzen fleissig gegen die Ukraine und vor allem gegen die Flüchtlinge. Dabei können sie mit weit verbreiteter Missgunst, Neid und Xenophobie rechnen, die sich vor allem in den sozialen Medien manifestieren. Bislang hat sich die öffentliche Meinung in Europa weitgehend immun gezeigt, doch ob das so dauert – beispielsweise in Deutschland, Italien, Ungarn, Tschechien – bleibt abzuwarten. Jedenfalls scheint der Kreml bisher in der Propaganda erfolgreicher zu sein als auf dem Schlachtfeld, in der Rüstungstechnik  und Wirtschaft.

Inmitten von diesem Szenario steht, weitgehend einsam, Wladimir Putin. Noch hat die Welt die wahre Lage Russlands nicht erkannt. Putin jedoch sollte sie erkannt haben. Es sei denn, er glaube die Zahlen, die seine Leute für das heimische Publikum und für die Welt frisiert haben. Nach dem Debakel mit dem FSB und seinen Generälen sollte er jedoch misstrauisch geworden sein.

Was würde es bedeuten, wenn Putin erkennen sollte, in welcher Lage sich sein Imperium befindet?

Seine Gemütsverfassung müsste Verzweiflung sein. Er steckt in einem Krieg. In dem jedes Ende, das nicht totalen Sieg bringt, eine Niederlage bedeutet.  Hat er, hat Russland genug Stärke, um eine Niederlage zu verkraften?

Die Wirtschaft Russlands ist offenbar in einem unaufhaltsamen Abstieg begriffen, der sichtbar werden wird, sobald die Hilfsmassnahmen der Regierung und die Gewinne aus dem Export fossiler Brennstoffe auslaufen.

Nur die Propaganda als Waffe des hybriden Kampfes zeitigt Erfolge, einigt die Bevölkerung Russlands in einem faschistischen Grossmachtsrausch, dem die intellektuelle Schicht entflieht, solange sie noch kann. Würde es der Propaganda gelingen, eine Niederlage in einen Sieg umzumünzen? Würde das grossmachtversessene Volk Putin weiter tragen?

Mit jedem Tag, der vergeht, wird Putins Lage schlechter. Schon wirbt die Ukraine um Investitionen in eine leuchtende Zukunft. Wer klug ist, investiert jetzt, lautet die Botschaft. Sie zeigt auch, wie machtlos Putin geworden ist. Dass die westlichen Sanktionen für die russische Wirtschaft nicht so harmlos sind, wie der russische Präsident Wladimir Putin sie immer dargestellt hat, hat Putin nun auch selbst zugegeben. Beim Wirtschaftsforum in Wladiwostok räumte er ein, dass es in einigen Branchen und Regionen Schwierigkeiten gebe. So hätten Unternehmen zu kämpfen, die auf Zulieferungen aus Europa angewiesen seien.

Russland könnte eine längere und tiefere Rezession bevorstehen, da sich die Auswirkungen der US-amerikanischen und europäischen Sanktionen ausbreiten und Sektoren beeinträchtigen, auf die sich das Land jahrelang verlassen hat, um seine Wirtschaft anzutreiben, so ein interner Bericht, der für die russische Regierung erstellt wurde.

Die Wirklichkeit erschüttert die Traumwelt, die Putin sich gebaut hat. Wie wird er darauf reagieren? Die Welt fürchtet seine Irrationalität, und die seiner Kamarilla. Mit jedem Tag der vergeht wird Putin verzweifelter und gefährlicher. Spitzenpolitiker des Westens wissen das. Aber leider nur sie.

Noch hat Putin einen Strohhalm, an den er sich klammern kann: den General Winter. Wird er Russland, wie so oft in der Vergangenheit, retten? Werden starke und anhaltende Minusgrade die frierenden Europäer veranlassen, die Ukraine dem russischen Gas zu opfern?  Noch zeigen Umfragen, dass die Mehrheit der Europäer solidarisch mit der Ukraine fühlt. Aber es ist ja noch nicht kalt.

Sollte sich jedoch im Verlauf des Winters zeigen, dass die Europäer nicht einknicken: dass sie den Kampf der Ukraine dem Thermometer und den Trolls zum Trotz weiterhin unterstützen, dann ist für Putin der Krieg gelaufen, und nicht nur das. Dann ist das für ihn Unvorstellbare eingetreten. Wird er dann mit einem Paukenschlag aus der Weltgeschichte verschwinden wollen?

Heinrich von Loesch
Update
KIEW, 7. Sept. (Reuters) - In einer seltenen öffentlichen Äußerung hat der ukrainische Militärchef am Mittwoch vor der Gefahr eines russischen Atomwaffeneinsatzes in der Ukraine gewarnt, der das Risiko eines "begrenzten" Atomkonflikts mit anderen Mächten mit sich bringen würde.

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