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Die Furcht der Wenigen vor den Vielen

    Sie schiebt einen Kinderwagen. Daneben läuft ein kleines Kind. Ein drittes Kind wölbt sichtbar ihren Bauch. Dazu ein fremdländisches Gesicht, vielleicht ein Kopftuch. Blicke der Passanten sind nicht immer freundlich.

    In einem kinderarmen Land erregt Kinderreichtum Argwohn. Warum hat sie so viele Kinder, eins nach dem andern? Wozu so viele Kinder wenn es so teuer ist, Kinder aufzuziehen? Ist es verantwortungsvoll, in einem fremden Land so viele Kinder in die Welt zu setzen? Viele Fragen, viele Zweifel.

    Wenn Europa nicht genug eigenen Kinder hat, dann zieht es halt die Kinder der Einwanderer auf. Wo die Einwanderer wohnen, da füllen sie die Schulen. In den Brennpunkten verdrängen die Einwandererkinder die heimischen Kinder, und deren Eltern sind ungefreut. Daraus ergeben sich Spannungen. Nicht nur in Europa. Überall.

Das klassische Beispiel: Israel

    Als Israel gegründet wurde, gab es etwa 1,4 Millionen Araber – Moslems und Christen – in Palästina. Seither sind Millionen sogenannte Palästinenser ausgewandert: nach Jordanien, Syrien und Libanon, an den Persischen Golf, nach Übersee und Europa. Dennoch gibt es im ehemaligen Mandatsgebiet inzwischen 6,7 Millionen Araber (2017), davon 1,7 Millionen (2013) in Israel. Israel hat zwar Millionen Juden aus der ganzen Welt – selbst aus Fernost und Äthiopien -- zusammengeholt, um das junge Land zu stärken, doch vergeblich. Israel, das Gaza und das Westjordanland im Sechstage-Krieg erobert hatte, musste Gaza wieder in die Selbständigkeit entlassen, um ein paar Millionen Araber loszuwerden, die sein Bevölkerungsgleichgewicht gefährlich in Richtung auf eine arabische Mehrheit belastet hätten.

    Mehrere Gaza-Kriege waren die Folge. Dennoch schien nicht gesichert, dass Israel auf immer ein jüdisch dominierter Staat bleiben kann, denn die im Lande lebenden Araber im Lande vermehrten sich rascher als die Juden. Ein von der Gründungsidee her jüdischer Staat mit einer arabischen Mehrheit erschiene absurd. Doch seit etwa zehn Jahren hat sich der muslimische Anteil an der Bevölkerung bei etwa 21 Prozent stabilisiert, nachdem die Fruchtbarkeit der arabischen Israelis stark gesunken ist.  Im Innern des Landes herrscht jetzt ethnisches Gleichgewicht -- ein enormer Fortschritt für Israel, so lange es das Westjordanland mit seinen Arabern nicht formell annektiert.  Doch in den Nachbarländern?

Syrien

    Vor dem Bürgerkrieg zählte Syrien 23 Millionen Einwohner (2011). Mitte 2018 schätzte das CIA Factbook die verbliebene Bevölkerung Syriens auf 19,5 Millionen. Von rund 6 Millionen weiss man, dass sie das Land verlassen haben. Rund 550.000 Tote hat der Krieg bislang gefordert. Trotz des Verlusts an Menschenleben würde sich die syrische Bevölkerung im Inland und Ausland zusammengenommen gegenwärtig auf rund 25,5 Millionen belaufen, obwohl die Geburtenrate in Inland seit Kriegsbeginn stark gesunken ist. Von Israel aus betrachtet zeigt der Fall Syriens, dass selbst ein blutiger Bürgerkrieg die Vermehrung der potentiell feindlich gesinnten Nachbarn nicht wesentlich bremsen kann.

Das Beispiel USA

    Da die Fruchtbarkeit der weissen Bevölkerung der USA sich allmählich europäischen Verhältnissen nähert, machen sich die weissen Amerikaner verstärkt Sorgen um die Komposition der künftigen Bevölkerung. Dank der starken Einwanderung des vergangenen Jahrzehnts wird heute jedes vierte Kind  eingewanderten Latino-Eltern geboren. Weisse, Schwarze und Asiaten werden von den hereinströmenden und geburtenreichen Latinos zurückgedrängt. Dass Präsident Donald Trump die Eindämmung der Latino-Einwanderung zu einem Hauptziel seiner Politik gemacht hat, erklärt die starke Unterstützung, die er dafür geniesst und ihm möglicherweise seine Wiederwahl sichert. Dass das wirtschaftlich aufstrebende Mexiko nicht mehr Hauptlieferant der Einwanderer ist, sondern dass eine Handvoll kleiner zentralamerikanischer Staaten genug Migranten liefert, um die Südgrenze der USA in Krise zu stürzen, ist natürlich auch ein Ergebnis der lautstarken Trump-Politik, die Hunderttausende motivierte, rechtzeitig den Rucksack zu packen ehe die Grenze ganz geschlossen ist.

Italien

    Italien ist gespalten in einen prinzipiell fremdenfeindlichen Norden und einen generell fremdenfreundlichen Süden. Doch der massive Andrang über das Meer seit etwa 2013 hat auch im Süden xenophobe Reaktionen bewirkt. Dass jeder Migrant automatisch als Flüchtling gilt, wenn er aus Libyen kommt, weil man ihn oder sie nicht dorthin zurückschicken kann, hat Folgen.

    So wie Griechenland die der Türkei vorgelagerten Inseln mit ihrem Migranten-Problem weitgehend allein lässt, so ignoriert Rom die Probleme auf Lampedusa und in Sizilien. Dass der Cosa Nostra in Palermo mittlerweise eine nigerianische Mafia Konkurrenz macht, beunruhigt sizilianische Gemüter.

    Doch selbst im fernen Rom hat der Einstrom der Migranten die Geduld weiter Bevölkerungskreise erschöpft. Dass an jeder Tankstelle ein Bangladeshi auf Trinkgeld lauert, dass vor jedem Supermarkt, jedem Restaurant und vielen Bars ein Schwarzer bettelt – zumindest zu den Hauptgeschäftszeiten – das strapaziert die Gutmütigkeit der Römer. Dass das Bettlerwesen, der Tankstellendienst, die nigerianische Prostitution und der senegalesische Strassenhandel mit gefälschter Markenware mafiös organisisiert sind, bezeugt das Wachstum einer steuerfreien Parallelwirtschaft.

    Rom ist inzwischen eine grössere Stadt von Bangladesch, ähnlich wie Berlin eine der Grosstädte der Türkei ist. Noch mehr solche Zuwanderer wollen die Italiener nicht, deswegen stimmen immer mehr Bürger für Matteo Salvini und seine Lega, die wie Präsident Trump gegen die Einwanderung kämpfen. Dass deutsche private Rettungsschiffe gegen die Vorschriften immer wieder Migranten in italienischen Häfen abladen, hilft Innenminister Salvini enorm, sein Traumziel neuer Wahlen und einer Rechts-rechts-Koalition seiner Lega mit den Faschisten zu erreichen.

    Salvinis Umfragewerte stiegen nach der forcierten Aktion der Kapitänin Carola Rackete  kräftig an. Manche Auguren munkeln gar von einem bevorstehenden Jahrzehnt Salvinis. Die Angst der Wenigen ist in Italien ausgeprägt: das einst extrem kinderreiche Land der “Katzlmacher” hat jetzt mit 7,3 %o die niedrigste Geburtenrate Europas. Angesichts der hartnäckigen Wirtschaftskrise gilt für viele junge Leute die Familienform “Vater--Mutter--Hund” als angemessen und Auswanderung als die beste Berufswahl.

Deutschland

    Noch widersteht Deutschland wacker den Problemen, die Italien (aber auch Grossbritannien und Frankreich) heimsuchen. Eine robuste Wirtschaft, Optimismus verbreitend, lässt die Einwanderungsfrage wenig bedrohlich erscheinen. Nach Umfragen sorgen sich die Deutschen derzeit mehr um das Klima als um die Zuwanderung. Die fremdenfeindliche AfD-Partei scheint besonders da attraktiv zu sein, wo es wenig Fremde gibt. Doch man möchte sich nicht vorstellen, wie Deutschlands politische Landschaft aussähe, wenn es dort italienische Verhältnisse gäbe: wirtschaftliche Depression, Jugendarbeitslosigkeit, schwarze Bettler und asiatische Billig-Arbeiter. Wie der deutsche Sozialstaat die Migranten versorgt, ist schon heute nicht überall akzeptiert. Es braucht nur einen neuerlichen Schub verstärkter Einwanderung und eine Wirtschaftskrise, und die Stimmung in Deutschland könnte kippen.

Kosovo

    Irgendwann im 19. Jahrhundert herrschte im Kosovo wohl ein Gleichgewicht zwischen Serben und Albanern. Dann führten Konflikte zwischen dem Osmanischen Reich und Serbien zu verschiedenen anti-albanischen und anti-serbischen Vertreibungen und Umsiedlungen. Im 20. Jahrhundert zeigte sich immer deutlicher eine albanische Mehrheit im Kosovo, die von den Serben nicht akzeptiert wurde und in den Kosovokrieg von 1998/99 samt der Vertreibung der meisten Serben mündete.

Ein Muster

   Die Angst der Wenigen vor den Vielen ist ein Muster, das man in zahlreichen Ländern findet. Sehr ausgeptägt ist die Angst in Ungarn und den anderen Visegrad-Ländern einschliesslich Ostdeutschlands. Teilweise ist wohl die hohe Fruchtbarkeit der einheimischen Roma-Minderheit in Visegrad-Ländern ein Grund, warum sich die lokale Mehrheitsbevölkerung auch ohne Einwanderung bedrängt fühlt. Selbst Diaspora-Ungarn bejahen die xenophobe Politik in Budapest.

    Die Angst der Wenigen dürfte einer der stärksten Triebkräfte der Politik in diesem Jahrhundert bleiben. Je zahlreicher und sichtbarer die Vielen werden, desto radikaler wird sich die Angst manifestieren, gleichgültig ob die empfundene Bedrohung einen realen Kern hat oder nicht. Klassisches Beispiel: während der Kampagne vor der Brexit-Abstimmung wurde der britischen Öffentlichkeit suggeriert, dass Brüssel den Beitritt der Türkei zur EU forciere und dass dieser Millionen Türken in das Vereinigte Königreich spülen würde. Heute ist man sich klar darüber, dass dieses Märchen entscheidend zum Europa-feindlichen Ausgang der Abstimmung beigetragen hat.

    Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist der empfundene oder reale Konflikt zwischen den Wenigen und den Vielen wirtschaftlich und sozial begründet. Die Armut der Vielen lässt sie nach dem Reichtum der Wenigen streben. Schon die blosse Existenz der Vielen wird jedoch von den Wenigen als Vorwurf und als Bedrohung empfunden, vor allem, wenn die Vielen fruchtbarer sind. Ein Beispiel dafür:

Guatemala

    Die ehemalige spanische Kolonie wird von etwa 60 Prozent überwiegend mischrassigen Nachkommen der Kolonialherren (Kreolen, Mestizos, Ladinos) beherrscht. Ihnen gegenüber stehen rund 40 Prozent Ureinwohner, Indios vom Volke der Maya. Die auffallend kleinwüchsigen Mayas verkörpern endemische Unterernährung, Armut, Analphabetismus und die höchste Fruchtbarkeit von ganz Lateinamerika. Jahrhunderte der Unterdrückung und ein blutiger Bürgerkrieg (1954-96) haben den Gegensatz zwischen beiden Bevölkerungsgruppen extrem verschärft: man kann annehmen, dass die Ausbeutung und Vernachlässigung der Maya oberstes Paradigma guatemaltekischer Politik ist, getrieben von der Furcht, die fruchtbaren Indigenen könnten eines Tages dank Tourismus und Auswanderung gleichberechtigt werden.

   Übrigens eine Beobachtung, die sich in ganz Lateinamerika machen lässt: moderne Medizin und Hygiene lassen Indio-Bevölkerungen nach langem Rückgang kräftig wachsen, aber nur selten führt das wie in Bolivien eine indigene Regierung an die Macht.

    Nur zu gerne lassen die lateinamerikanischen Regierungen ihre Staatsbürger in die USA oder Kanada auswandern -- das nimmt Druck aus dem Kessel und verspricht Dollar-Remittenten der Diaspora. Die Trump-Regierung sieht das nicht gerne und will die lateinamerikanischen Regierungen nun zwingen, ihre Bürger an der Auswanderung zu hindern. Ebenso will sie die Transit-Länder -- vor allem Mexiko -- zwingen, die Migranten zu stoppen und in ihre Ursprungsländer zurück zu schicken. Ein innovatives Konzept, das -- falls erfolgreich--  zum Vorbild für Europas Afrika-Problem dienen könnte.  Der Sudan fungiert bereits als eine Art Rúckhaltebecken und Rücksendestation für Migranten aus Nachbarländern, vor allem Eritrea und Äthiopien. Marokko greift Miogranten nahe der Mittelmeerküste auf und schickt sie zurück in den tiefen Süden. Auch Algerien sendet Migranten per Bus zurück an die südliche Grenze und lässt sie von dort zu der nigrischen Grenzstation marschieren. Wenig auffällig aber recht effektiv und vielleicht humaner als die italienische Politik, die Migrantenboote übers Meer irren zu lassen. Nur in Libyen ist das Verfahren nicht praktikabel weil staatliche Strukturen fehlen. 

    Die Angst der Wenigen vor den Vielen führt im Konfliktfall dazu, dass internationale Normen und humanes Verhalten über Bord geworfen werden. Die Art, wie nordafrikanische Länder die hereinströmenden Schwarzafrikaner behandeln, wie Trumps Schergen mit den Zentralamerikanern an der Grenze umgehen, wie die italienische Regierung Moral und Recht über Bord wirft, wenn sie Rettungsschiffe kriminalisiert, all das zeigt, welche Roheit waltet, wenn die Wenigen die Vielen abwehren.

Heinrich von Loesch

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