• Archive
  • Bedrohen Turkvölker Russlands Einheit ?

Bedrohen Turkvölker Russlands Einheit ?

Russland und die Türkei führen derzeit zwei Stellvertreterkriege: einen in Syrien und den anderen in Nagorno-Karabagh. Die Türkei unterstützt Aserbaidschan, Russland Armenien. Ausserdem sind Russland und die Türkei in einen scharfen Propagandakrieg verwickelt. In diesen Zusammenhang passt der folgende Beitrag des Nachrichtenportals  EURASIANEWS.de.

   Die Konfrontation Russlands mit der Türkei im syrischen Stellvertreterkrieg könnte ohnehin bereits bestehende Probleme mit muslimisch-türkisch geprägten Minderheiten im Nordkaukasus und im Ural nochmals verschärfen. Eine solche Entwicklung könnte ein signifikantes Risiko für die Wahrung der territorialen Integrität der Russischen Föderation darstellen.

   Die schwächelnde russische Wirtschaft birgt auch eine politische und nicht zuletzt eine geografische Dimension für Moskau in sich. Der Grund für die Tiefenwirkung wirtschaftlicher Unwägbarkeiten ist in der multiethnischen Identität Russlands zu suchen und in der spezifischen Organisation der Staatsstruktur. Eurasianet glaubt, dass der russische Staat „zu zentralisiert“ sei. In Zeiten wirtschaftlicher Schwäche habe sich das System Moskau zu oft als zu „brüchig“ erwiesen, da sich der Kreml nicht einfach mehr die Loyalität aller Provinzfürsten erkaufen könne. Daher entwickeln geografisch entfernte und kulturell diverse Regionen politisch störrische Verhaltensmuster.

   Ein gutes Beispiel für dieses Phänomen sind die chaotischen Jahre zwischen 1917 und 1991, als sich zahlreiche Minderheiten von Moskau distanzierten und loseisten oder dieses zumindest versuchten. In Moskau angesiedelte Denkfabriken indes glauben, dass eine solche Entwicklung im Zeichen internationaler Sanktionierungspolitik gegen Russland allmählich erneut einsetzen könnte.

   Das „Institut für Nationale Strategie“ (INS) in Moskau entdeckte zahlreiche alarmierende soziopolitische Trends. So schrieb es in einem Bericht mit dem Titel „Zerrissenes Russland: Berichte über Ethnopolitik“:

Die Expansion des radikalen Islamismus, die unkontrollierte Migration aus den südlichen Republiken der ehemaligen Sowjetunion, der Einfluss des entlang ethnischer Linien organisierten Verbrechens und unabhängige Geschäfte von Clans, die Verbreitung anti-russischer Stimmung durch ethnisch ideologisierte Scharfmacher, die Ambitionen von regionalen, ethnokratischen Eliten, die Aussicht auf militärische Konflikte stellen eine – wenn auch unvollständige – Liste der Herausforderungen dar, vor denen Russland steht.“

   Am 27. Januar hielt das Institut unter dem Titel „Krise im Nahen Osten und die ethno-konfessionellen Risiken in Russland“ eine Konferenz ab, im Zuge derer die wichtigsten Erkenntnisse hinsichtlich der Integrität Russlands erläutert wurden. Die vielfältige Krise im Nahen Osten, deren Symptome unter anderem die Entstehung der Terrormiliz „Islamischer Staat“, Russlands militärische Verwicklung in den syrischen Bürgerkrieg und die zunehmenden Spannungen mit der Regionalmacht Türkei darstellen, haben die ohnehin komplexe ethno-religiöse Lage in Russland zusätzlich verschärft. Die Entwicklungen im Nahen Osten schaffen neue Sicherheitsrisiken für Moskau, argumentierten die Autoren der Studie.

   Die neuen Risiken, die gegen Ende 2015 zunehmend sichtbar wurden, können in drei grobe Kategorien eingeteilt werden:

  • Die erste und am meisten Aufmerksamkeit auf sich vereinende Kategorie ist das bei der Konferenz besprochene Konzept der „alternativen Loyalitäten“.

In zahlreichen Regionen Russlands – meist muslimisch und von Turkvölkern besiedelt – wird die Loyalität gegenüber der Zentralregierung in Moskau und deren Politik unter breiten Segmenten der Lokalbevölkerung in Frage gestellt. Zudem haben sich die „Bedingungen für das Anwachsen politischen Protests“ in den besagten Regionen weiter vertieft. Des Weiteren werden „alternative Loyalitäten“ durch das insgesamt gegenüber Bevormundung resistent wirkende System aus religiösen, kulturellen und ökonomischen Netzwerken gehegt, dem insbesondere die Türkei zugehört, die ihrerseits wiederum enge kulturelle, ethnische und religiöse Beziehungen mit den Muslimen Russlands pflegt. Diese Loyalitätsproblematik entfaltet unter anderem Relevanz im Kampf um Einfluss in Russlands Wolgaregionen, dem Nordkaukasus und der Krim.

  • Die zweite Kategorie ist „Ethno-Nationalismus kombiniert mit der Tendenz nach mehr Unabhängigkeit lokaler politischer Eliten“. Lokale Eliten, insbesondere in Tatarstan, zögerten merklich, Moskaus Positionen im Konflikt mit der Türkei nach dem Abschuss eines russischen Bombers im türkisch-syrischen Grenzgebiet durch die türkische Luftwaffe im November 2015 zu unterstützen.

Die Studie schreibt:

„In den Regionen der Russischen Föderation, die traditionell von muslimisch geprägten Volksschichten besiedelt sind, geht die Stärkung der islamischen Identität eng mit einem ethno-nationalen Separatismus einher. Diese Regionen sind vor allem in den entsprechenden Wolgaprovinzen und im Nordkaukasus türkisch besiedelt.“

  • Die dritte Kategorie ist die einer möglichen Eskalation im Zusammenhang mit tagesaktuellen Fragen der Geopolitik:

   Infolge des syrischen Bürgerkrieges könnte vor allem die Türkei versucht sein, die sozialen Spannungen entlang Russlands strategischen Fronten und „Zonen der Verwundbarkeit“- also etwa dem Südkaukasus, der zum Nordkaukasus führt, Zentralasien, von wo aus Zugang zu den russischen Regionen Tatarstan und Baschkortostan in der Wolga-Region besteht, und auf der Krim – zu eskalieren.

   Im Südkaukasus und in Zentralasien finden sich ebenso zahlreiche Turkvölker, die auch auf politischer Ebene gute Beziehungen zur Türkei unterhalten. Die Schaffung anti-russischer Spannungen in den Außensphären Russlands könnte die ethno-politische Situation innerhalb von Russlands diesbezüglich problematischsten Regionen negativ beeinflussen.

   Ungeachtet der schwerwiegenden Aussagen bleibt zu bemerken, dass das INS  eine Denkfabrik von weitgehend ethno-nationalistisch inspirierten Analysten ist, die lange Zeit mit den so genannten „Jungen Konservativen“ im Land assoziiert wurde.

   Der Vorsitzende der Denkfabrik ist Michail Remizow. Auch wenn Remizow ein vehementer Kritiker der Nationalitätenpolitik Putins ist, ist er Mitglied des Moskauer Expertenrates, der nicht zuletzt auch den russischen Präsidenten bei politischen Entscheidungen berät.

Print Email