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Europa und der Ukrainekrieg

 

Im Jahre 1989 verkündete Francis Fukuyama voreilig das "Ende der Geschichte". Dies glaubend ruhte sich Europa aus und hielt Wladimir Putin fortan für einen friedliebenden, koexistierenden Zeitgenossen.

Am 24. Februar 2022 marschierte Russland in die Ukraine ein, deren Präsident Wolodymyr Selenskyj trotz amerikanischer Warnungen die russische Invasion bis zuletzt für unwahrscheinlich hielt.

Seit zwei Jahren liefern sich Russland und die Ukraine einen blutigen Stellungskrieg. Inzwischen haben sich die geopolitischen Koordinaten verschoben.

Der ursprüngliche Enthusiasmus des Westens, der Ukraine gegen eine Übermacht zu helfen, ist einem kritischen Gefühl gewichen, zur Hilfe verpflichtet zu sein. Selbst diese Verpflichtung wird von einigen Seiten in Frage gestellt, zum Beispiel von den amerikanischen Republikanern"") oder der europäischen extremen Rechten und Linken.

Beide großen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten - Trump und Biden - wollen sich eigentlich aus Europa zurückziehen und den Krieg in der Ukraine den Europäern überlassen, damit die USA sich mit voller Kraft gegen ihren Hauptkonkurrenten China wehren können.

Trump droht, Europa und die Ukraine in der Auseinandersetzung mit Russland Knall auf Fall zu verlassen. Biden wird voraussichtlich das gleiche Ziel anstreben, aber den Europäern ein paar Jahre Zeit geben, sich militärisch zu ertüchtigen.

In beiden Fällen muss Europa massiv und schnell aufrüsten, um der russischen Bedrohung zu begegnen, denn die Waffenvorräte sind nach vielen Jahren der Nachlässigkeit und starker Lieferungen an die Ukraine leer.

Der Widerstand der Ukraine verhindert noch immer Russlands - von Trump unterstützten -- Wunsch, NATO-Territorium zu erobern. Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, desto leichter wird es für die Europäer, aufzurüsten. Neue Fabriken müssen gebaut, enorme Geldsummen bewilligt, zähe Parlamente und Bürokratien überwunden werden, damit Europa dem derzeit enormen Rüstungsboom in Russland etwas Vergleichbares**) entgegensetzen kann. All dies braucht Zeit, und die Ukraine erkauft sie mit Blutvergießen.

Europa befindet sich in einem Dilemma: Wenn es mehr Waffen produziert, um sie in die Ukraine zu schicken, verzögert es seine eigene Aufrüstung gegen den russischen Imperialismus. Wenn es jedoch die eigene Aufrüstung vorantreibt und die Ukraine vernachlässigt, kann Russland dort gewinnen und dann siegestrunken NATO-Gebiete und Deutschland angreifen.

Interessant ist in dieser Situation die Strategie der baltischen Staaten. Sie betrachten den Ukraine-Konflikt als ihren eigenen Krieg: Sie wissen, dass sich ihr Schicksal auf den ukrainischen Schlachtfeldern entscheiden wird. Deshalb schicken sie jede verfügbare Waffe, jeden Euro und jeden Dollar nach Kiew, weil sie wissen, dass ihr Untergang wahrscheinlich ist, falls die Ukraine verliert.

Selbst wenn Biden die nächsten Wahlen gewinnt und Europa mehr Zeit gibt, aufzurüsten, besteht die Gefahr, dass die Ukraine ausblutet. Der Mangel an Menschen macht sich immer stärker bemerkbar. Zwei Millionen ukrainische Männer sind ins Ausland geflohen; sie sind unersetzlich*).

Ihr Votum ist eindeutig: Sie glauben nicht, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann. Oder dass die Ukraine den Krieg ohne sie gewinnen wird und sie dann bequem nach Hause zurückkehren können.

Bislang ist nicht erkenntlich, ob und wie die Regierung in Kiew die im Prinzip Fahnenflüchtigen zur Heimkehr und zum Wehrdienst animieren will. Vielleicht könnte sie Anregungen beim Studium der Massnahmen der eritreischen Regierung hinsichtlich ihrer im Ausland lebenden Staatsbürger finden.

 Das wirft die peinliche Frage auf, ob die EU-Politik der offenen Tür für ukrainische Flüchtlinge die Auswanderung wehrfähiger Männer gefördert hat.

Es sollte nicht vergessen werden, dass die visa- und schengenfreie Einreise in die EU den Ukrainern eine Chance bot, von der sie zuvor nur träumen konnten, und man muss davon ausgehen, dass die gut gemeinte EU-Politik zur militärischen Schwächung der Ukraine aufgrund ihres Mangels an Soldaten beigetragen hat.

Heinrich von Loesch

 

"") Russland wird 2024 mit 29 Prozent des Staatshaushalts 118 Milliarden Dollar für Rüstung ausgeben. Die EU zusammen mit den anderen europäischen NATO-Staaten gab 2022 für Rüstung insgesamt 346 Milliarden Dollar aus. Bei einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 13,300 Dollar in Russland (2024) und einem BIP pro Kopf von 38.450 Euro (2022) in der Eurozone ist offensichtlich, dass bei vorwiegend lokaler Rüstungsproduktion die Kaufkraft der russischen Militärausgaben wesentlich höher ist als die der kombinierten Militärbudgets der Eurozone.

 

*) Laut der Bundesagentur für Arbeit halten sich derzeit 255000 ukrainische Männer zwischen 15 und 65 Jahren in Deutschland auf.....Mehr als 70 Prozent der 2022 Befragten haben einen Hochschulabschluss.  

"Der schleichende russische Einfluss auf die Republikaner ist sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat gewachsen und hat einen Punkt erreicht, an dem Positionen, die vor zwei Jahren noch empörend schienen, nun die Republikanische Partei dominieren.

Im Mittelpunkt dieses Problems steht die Vergötterung Putins als autoritärer Machthaber, der über allen erdenklichen Reichtum und alle Macht verfügt und seinen Freunden auf der Grundlage ihrer Loyalität jeweils einen Teil davon zukommen lässt."

 

--ed

 Geopolitik

Umfragen zufolge hält die Mehrheit der Deutschen einen russischen Angriff auf ein NATO-Mitglied für möglich und befürwortet daher eine verstärkte Aufrüstung. So richtig dies ist, so wenig entspricht es der geopolitischen Verschiebung der Koordinaten, die ein amerikanischer Rückzug aus Europa bedeuten würde.

Unabhängig davon, ob der Abzug der 100.000 in Europa stationierten amerikanischen Soldaten auch den Austritt der USA aus der NATO bedeutet oder nicht, wäre die Folge ein Zerfall der NATO und damit ein sicherheitspolitischer Totalverlust für Europa.

Wer würde dann noch helfen, Deutschland zu schützen? Großbritannien wäre das geeignetste Land, um den Deutschen militärisch und politisch zu helfen, aber die Briten würden wohl nur im Windschatten der USA agieren .

Die Niederlande, Belgien und Dänemark würden Deutschland sicherlich als ihr Glacis verteidigen. Frankreich würde wohl eher einen NATO-Austritt und Nichtangriffspakt mit Russland in der gaullistischen Tradition anstreben. Österreich würde sich wahrscheinlich im Schatten der Schweiz für neutral erklären und hoffen, dass Moskau mit Deutschland zufrieden sein würde.

Italien und Spanien würden wahrscheinlich erwarten, dass sie den Deutschen nicht helfen müssten, weil - im Gegenteil - die Deutschen, die sich ja in zwei Weltkriegen bewährt hatten, sie verteidigen würden.

Damit bleiben Polen, die baltischen Staaten und die Tschechische Republik als natürliche Verbündete und Schutzmächte Deutschlands übrig. Die enge militärische Zusammenarbeit erfordert Sprachkenntnisse. Bei den sprachbegabten Balten dürfte das übliche NATO-Englisch ausreichen. Im Falle Polens ist es jedoch notwendig, dass das deutsche Offizierskorps die Zeit bis zum Abzug der Amerikaner und zur erfolgreichen Aufrüstung nutzt, um Polnisch zu lernen. Die polnische Armee wird die größte in Europa sein, und die deutsche Bundeswehr wird sich einfügen müssen.

Heinrich von Loesch

 

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