Den Nahen Osten entfernen?
Mit Barack Obama ziehen sich die USA aus dem Nahen Osten zurück. Andere machen sich das Vakuum zunutze. Was bedeutet das für Europa?
In seinem umfassenden Interview mit Jeffrey Goldberg im Atlantic gab Präsident Barack Obama Einblicke in sein Denken und verriet Beweggründe wichtiger Entscheidungen seiner beiden Amtsperioden.
Sein Interesse an Asien, seine kritische Distanz zu Europa, seine Meinung über Politiker von Cameron über Putin bis zu Netanyahu – all das ist interessant und zeigt einen intelligenten, unabhängigen Zeitgenossen, der versucht, sich der massiven Einflüsse zu erwehren, die ihn in bestimmte Richtungen drängen wollen.
Doch der interessanteste Teil des Berichts betrifft den Nahen Osten. Er zeigt, dass Obama diese Zone wie einen Morast empfindet, in den Amerika durch die Fehler seiner Amtsvorgänger geraten ist, und aus dem er sich mühsam zu befreien versucht.
Im Prinzip ist ihm das auch gelungen. In Afghanistan und im Irak sind die Amerikaner nur noch auf Sparflamme aktiv. Hätte Daesh – der Islamische Staat – nicht amerikanische Bürger ermordet und Terrorattentate begangen, so wäre Obama nicht bereit gewesen, jene Koalition zu schmieden, die Daesh mit Luftangriffen langsam aber erfolgreich zermürbt.
Fracking brachte den Befreiungsschlag
Obamas Doktrin ist klar: was der Nahe Osten treibt, geht uns nichts an, solange amerikanische Bürger und Interessen nicht in direkter Gefahr sind. Zwei Umstände erlauben ihm diese distanzierte Haltung: zum einen sind die USA erstmals seit Jahrzehnten wieder unabhängig vom nahöstlichen Erdöl. Die Fracking-Technologie brachte den Befreiungsschlag. Derzeit importiert sogar die Türkei erstmals amerikanisches Erdgas.
Zum anderen ist die Gefahr von Terror-Anschlägen Pariser oder Brüsseler Musters in Amerika gering. Es fehlen die arabisch-islamischen Ghettos in den Grosstädten, die als Brutstätten des Fanatismus fungieren können. Amerikas Moslems sind generell gebildeter, bürgerlicher und besser integriert als Europas Minderheiten. Dank der rigiden Reisekontrollen nach 9/11 ist der Syrien- und Afghanistan-Tourismus der Dschihadisten schwierig, wenn nicht unmöglich geworden. Syrien-Flüchtlinge kommen, so weit überhaupt, in sehr geringer Zahl und bestens überprüft ins Land.
Obama kann sich also zurücklehnen und das Chaos in Europa mitleidig betrachten. Vor allem konnte er die Landkarte des Nahen Ostens, wie sie sich in amerikanischen Köpfen darstellt, neu zeichnen.
Iran wichtiger als die Sunniten
Die traditionellen sunnitischen Verbündeten – Saudi-Arabien, Qatar, die Emirate, Kuweit, Bahrein – verloren bei Obama ihren Vorzugs-Status. Mit geopolitischem Realismus erkannte Obama in Iran mit seinen 81 Millionen relativ gebildeten Einwohnern die kommende Vormacht der Region, weit wichtiger als das von Ölgeld aufgeplusterte Saudi-Arabien mit 27 Millionen weitgehend unproduktiven Bürgern. Deswegen, nicht nur wegen des Problems der Atomrüstung, schien ihm der Ausgleich mit Iran wichtig genug, um ihn gegen die Saudis und Israels Netanyahu durchzusetzen.
Gerade Obama muss das Unheil, das Saudi-Arabien und Qatar mit dem weltweiten Export ihres wahhabitischen Fanatismus angerichtet haben, besonders anwidern. Dass im Lande seiner Kindheit, Indonesien, der friedlich-synkretistische Islam unter dem Druck der saudisch finanzierten Imams und ihrer Medressen zusehends aggressiver geworden ist, kann Obama nur traurig stimmen. Noch schlimmer ist die nahezu totale Vorherrschaft der Wahhabiten im Internet. Saudische Webseiten, qatarische Webseiten und der Kosmos der Dschihadisten verschiedener Couleur; der wenige Platz, den sie übrig lassen, wird von den Moslembrüdern gefüllt, die sich in ihrem Dschihad nur graduell von den Wahhabiten unterscheiden. Eine ganze Generation junger Moslems wächst heran, die ihr Weltbild aus dem Internet beziehen und deren Islamverständnis sich fundamental von dem früherer Generationen unterscheidet. Der sozialistische Abgeordnete im belgischen Parlament Jamal Ikazban warnte kürzlich, dass “das Internet eine viel grössere Rolle in der Radikalisierung der Jungen spielt als die Moscheen.”
Die libysche Katastrophe
Ein wichtiges Element der Herabstufung des Nahen Ostens in Obamas Weltbild spielte Libyen. Ihn schockte, dass Libyen nach der Beseitigung des Diktators Ghaddafi in ein Kaleidoskop von Stämmen und ihren Milizen zerfiel und seither jedem Ansatz zur Wiedervereinigung widersteht. Dass der brutale Stammesegoismus, den Obama aus seiner Teilheimat Kenia kennt, Jahrzehnte der Nationalstaatlichkeit überdauert, war für ihn eine grosse Enttäuschung, die ihm jeden Ansatz zu einer geopolitischen Modernisierung des Nahen Ostens aussichtslos erscheinen lässt.
Wenn Obama entschieden hat, den Nahen Osten aus der direkten Interessensphäre Amerikas auszuklinken, so hat dies auch mit menschlicher Enttäuschung zu tun. Als 2011 die Syrienkrise begann, entschied sich Washington, dass die Aufständischen die Guten und Assads Leute die Bösen seien. Je länger man die Rebellen unterstützte, desto mehr musste man die Hypothese bezweifeln, dass der Aufstand Syrien in eine Demokratie westlichen Musters führen werde. Keiner der Nachbarn wollte ein demokratisches Syrien. Saudi-Arabien träumte davon, sich Syrien ganz einzuverleiben. Erdogan in Ankara wollte und will noch heute Syrien der Moslem-Bruderschaft übergeben. Iran und Irak wollen genau das vermeiden. Sie stützen Assad, weil nur er eine sunnitische Machtübernahme verhindern kann.
Bald hatte Washington erkannt, dass es in Syrien keine Guten und Bösen gibt, sondern nur Böse. Einen Schritt weiter gehend, musste Obama erkennen, dass es im ganzen Nahen Osten, wenn man Israel ausnimmt, nur Böse gibt. Nachdem laut Atlantic ihn König Abdullah von Jordanien – der letzte sogenannte Verbündete -- anlog, fiel es Obama nicht schwer, Konsequenzen zu ziehen.
Der Rückzug aus dem Nahen Osten zeigt die zu erwartenden Folgen. Russland stösst in das Vakuum vor und sichert sich den besten Teil Syriens als Kolonie unter dem Statthalter Assad. Die Türken versuchen, sich das Siedlungsgebiet der syrischen Turkmenen – die sie schon mal Türkmenen nennen – als Protektorat anzueignen, werden allerdings von russischen Bombardements daran gehindert. Die Kurden okkupieren mehr Land im Norden Syriens und vertreiben angeblich die Araber von dort. Netanyahu treibt ungehindert seine Siedlungspolitik in Cisjordanien voran. Saudi-Arabien schlägt mit seinen Panzern eine schiitische Rebellion in Bahrein nieder und bombardiert die jemenitischen Huthis, von denen man nicht mal sicher weiss, ob sie Schiiten sind.
Können wir Obama kopieren?
Die tiefen Einblicke in Präsident Obamas Denken, die Atlantic vermittelt, lassen uns Europäer ratlos. Der Instinkt sagt: Obama hat Recht, tun wir es ihm nach! Entfernen wir den Nahen Osten!
Aber alle Umstände sprechen dagegen. Kein Atlantik trennt uns vom Nahen Osten. Millionen unserer Bürger stammen aus diesen Ländern, sind sentimental und religiös mit ihnen verbunden. Weitere Millionen stehen vor unserer Türschwelle und hoffen auf die Gelegenheit, sie zu überschreiten. Hunderte, wahrscheinlich Tausende Gefährder aus diesen Ländern befinden sich bei uns und kommunizieren mit Mordsyndikaten im Nahen Osten, die sich der Mafias Süditaliens bedienen, um Europas Sicherheitsdienste auszutricksen, im Tausch gegen Drogen, versteht sich. Vor allem aber hängt Europa mit seiner Ölversorgung unverändert vom Nahen Osten ab. Würde die Strasse von Hormus auch nur ein paar Tage gesperrt, bräche in Europa Panik aus.
Obama weiss das. Er weiss, dass der Nahe Osten – dem Amerika jahrzehntelang übermässige Aufmerksamkeit widmete – in Wirklichkeit ein europäisches Problem ist. Je mehr sich Washington aus der Region zurückzieht, desto klarer wird das Problem für Europa. Obama wundert sich, dass Europa das nicht erkennt, sich nicht für diese Rolle rüstet.
Das militärische Versagen Europas in Libyen: die hehren Worte gefolgt von einem militärischen Einsatz, der ohne Amerikas Hilfe kläglich gescheitert wäre: das zeigte Obama wie schwach und konzeptlos die Europäer sind. Deswegen hat er sich auch nicht sonderlich bemüht, Europa in die Koalition des Luftkrieges gegen den Daesh einzubinden. Die Entwicklung gibt ihm Recht: Europa findet keinen Weg, trotz etwas italienischem Säbelrasseln, das Chaos in Libyen zu beenden.
Kopflose Bürokratie
Wo sind die Europäer, wenn die Saudis Jemeniten massakrieren und ihre Kulturerbe-Städte zerbomben? Warum setzt sich Europa nicht ein, um Ägyptens Präsidenten al-Sisi zu weniger robuster Innenpolitik zu bewegen? Warum hofiert Europa einen Möchtegern-Diktator in der Türkei? Warum trägt Europas Aussenministerin Mogherini in Teheran ein Kopftuch? Warum bändigt Europa seine kopflose Bürokratie nicht, die jede Terrorbekämpfung erschwert, Sicherheitsdienste und Polizei der Lächerlichkeit preisgibt?
Angesichts der Unfähigkeit und Lethargie Europas scheint es unvermeidlich, dass der Nahe Osten mit seinem Chaos, seinem Bevölkerungswachstum und seiner Bösartigkeit die Tagesordnung Europas auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte hinaus dominieren wird. Sollte Obamas Doktrin über seine Amtszeit hinaus Bestand haben, so kann Brüssel keine Hilfe von Washington erwarten.
Aber es kann ja sein, dass mit einer Präsidentin Clinton die alte Riege in Washington wieder an die Macht kommt, einschliesslich der arabisch finanzierten Think Tanks in Kalorama hinter dem Islamischen Zentrum, die nur getarnte Lobby-Büros sind. Doch es ist wenig wahrscheinlich, dass die alten Zeiten zuröckkehren werden, denn das ehemalige nahöstliche Druckmittel Erdöl ist den Scheichs und Ayatollahs abhanden gekommen.
In jedem Fall muss Europa realisieren, dass nach Amerikas Rückzug aus der Region der Nahe Osten ihm in den Schoss fallen wird. Eine Fast-Atommacht – Iran –, eine nach Nuklearwaffen strebende Macht – Saudi-Arabien – und einen Anwärter auf schmutzige Bomben und Chemiewaffen – Daesh – offeriert die Region. Dazu Massenauswanderung und Terrorismus-Export. Die Zeiten, in denen Europa den Nahen Osten mit freundlichem Desinteresse behandeln konnte, in der Annahme, dass die USA, Israel und eventuell die Türkei dort für Ordnung sorgen werden, sind vorbei.
Praktisch heisst das, dass Europa sprachlich und informativ aufrüsten muss. Arabisch und Farsi sprechende Verwaltungs- und Polizeieinheiten müssen aufgebaut werden. Diese Sprachen müssen so karrierefördernd werden wie Spanisch-Kenntnisse in den USA. Spezialisierte Forschungseinrichtungen werden benötigt, die die Verwaltung schulen und beraten können. Europas Militär muss für Einsätze im Nahen Osten qualifiziert werden. Es kann nicht sein, dass europäische Bürokraten oder Polizisten, wenn sie mit Arabern oder Persern zusammentreffen, die Unterhaltung – wenn überhaupt – in gebrochenem Englisch bestreiten und der Dialog mit der meist vergeblichen Suche nach einem Dolmetscher endet.
Der Nahe Osten liegt nicht irgendwo jenseits des Mittelmeers. Nordafrika, Ägypten, die Levante und die Türkei sind unsere direkten Nachbarn. Obama meint, wir sollten uns endlich um sie kümmern, so wie sich die USA um die hispanischen Nachbarn kümmern. Freilich sollte Europa nicht in den Fehler amerikanischer Regierungen verfallen, einzelne und stets fragwürdige Nahost-Staaten zu Verbündeten zu erklären oder ihnen gar Mitgliedschaft in der EU in Aussicht zu stellen. Der Nahe Osten sollte auf Distanz bleiben.
Heinrich von Loesch