• Patrick Artus: "2050 wird Europa als Wirtschaftsmacht verschwunden sein"

Patrick Artus: "2050 wird Europa als Wirtschaftsmacht verschwunden sein" (2)

Patrick Artus ist ein französischer Wirtschaftswissenschaftler. In einem Interview mit Alternatives Economiques (das die Deutsche Rundschau auszugsweise zitiert) beklagt er die Schwäche des europäischen Wachstums. Indem er die unterschiedlichen Wachstumsverläufe in Europa, den USA und Asien extrapoliert, kommt er zu einer harten und glaubwürdigen Prognose:

P.A.: Würde eine Union der Kapitalmärkte in Europa das Problem lösen? Ich glaube nicht. Über einen einheitlichen Marktregulierer zu verfügen, ändert nichts an der grundsätzlichen Situation: Ein in den USA angelegter Dollar bringt 17 % Rendite, während ein bei uns angelegter Euro 9 % einbringt. Das ist ein Teufelskreis: Um mit den USA bei der Verteilung der weltweiten Ersparnisse konkurrieren zu können, müssten wir große Investitionen tätigen, die zu Produktivitätssteigerungen führen... die wiederum viele Ersparnisse erfordern!

A.E.: Sie beklagen einen Mangel an mutigen Geistern bei den Unternehmern, die risikoscheu seien und es vorziehen, Bargeld anzuhäufen: Sind die französischen Unternehmer nicht unternehmerisch genug?

P. A.: Ja, die KMU (kleine und mittlere Unternehmen) betreiben sehr wenig Forschung und Innovation. Außerdem werden die Ersparnisse vollständig von den Banken vermittelt, und diese gehen kaum Risiken ein. Hinzu kommt ein Effizienzverlust bei Forschung und Entwicklung: Es braucht immer mehr, um etwas zu finden.

A.E.: Ihre endgültige Diagnose: ein verarmtes Frankreich im Jahr 2050.

P. A.: Bei einem Trendszenario, in dem es keine Produktivitätssteigerungen mehr gibt und die Bevölkerung schrumpft, kann das in Frankreich und Europa geschaffene Einkommen nur sinken. Unser Kontinent würde von heute 22 % des weltweiten BIP auf 15 % im Jahr 2050 und weniger als 10 % im Jahr 2100 zurückfallen. Das bedeutet, dass Europa als Wirtschaftsmacht verschwinden wird, zugunsten der USA, Indiens und Afrikas - wobei die beiden letzteren Fälle von einem zu niedrigen Stand ausgehen, um bald eine bedeutende Rolle spielen zu können.

China wird kollabieren, bis 2050 wird mit 600 Millionen Chinesen gerechnet, gegenüber 1,4 Milliarden heute. Die Welt von morgen wird von den USA dominiert werden.

 

Diskussion

Artus betont zu Recht die führende Rolle Nordamerikas. Ein Blick auf eine Zeitreihe des Wachstums der Pro-Kopf-Einkommen zeigt, dass das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in der Eurozone von 1960 bis 1980 stärker gewachsen war als in Nordamerika. Um 1980 änderte sich der Trend. Seitdem weist die Eurozone einen deutlichen Wachstumsrückstand gegenüber Nordamerika auf. Angesichts der derzeit hohen Wachstumsraten in den USA ist damit zu rechnen, dass das Pro-Kopf-Einkommen Nordamerikas bald das Doppelte des europäischen Durchschnitts erreichen wird.

The European Union needs up to 800 billion euros ($884 billion) in additional investment per year to meet its key competitiveness and climate targets, according to a report from economist and politician Mario Draghi.

Mit Blick auf China dürfte Artus allerdings irren. Die einsetzende Schrumpfung der Bevölkerung wird das Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum Chinas nicht bremsen, wie Artus zu erwarten scheint, sondern eher beschleunigen, wie das Beispiel Japans zeigt.

  

Europas italienische Zukunft

Während die Volkswirtschaften Nordamerikas und des Fernen Ostens rasch wachsen, leidet Europa seit etwa 1980 unter einer ausgeprägten Wachstumsschwäche. Die Folgen werden nun deutlich: Das Pro-Kopf-BIP der USA ($79.000; 2023) wird bald doppelt so hoch sein wie das der Eurozone ($44.000).
Zur Erinnerung: Um 1973 lag das Pro-Kopf-BIP der USA bei $26.600, das  Frankreichs bei $20.400.
Europa rutscht in die relative Armut ab. Während Nordamerika und der Ferne Osten wirtschaftlich expandieren, stagniert Europa.

Was das bedeutet, kann man in Italien sehen, einem notorisch langsam wachsenden Land. Die Einkommen stagnieren seit Jahrzehnten;

Die Reallöhne in Italien sind seit 1991 nur um 1 % gestiegen, während der Durchschnitt der OECD-Länder ein Wachstum von 32,5% aufweist.

Fortschritt und Modernisierung finden nur dort statt, wo neue Ansätze aus dem Ausland kommen oder dem Land aufgezwungen werden (z.B. von Brüssel). Gleichzeitig wachsen die sozialen Gegensätze, weil eine international orientierte Oberschicht mit dem amerikanischen und orientalischen Tempo Schritt hält, während die breite Unterschicht weitgehend vergeblich um die Erhaltung ihres Lebensstandards kämpft.

Wie Italien im kleinen bezieht Europa im grossen seinen Fortschritt durch Import aus Amerika oder Fernost:

  • das Internet, Artificial Intelligence
  • Social Media (X, Facebook, Instagram, Tiktok etc.)
  • Amazon, Google. Yahoo, Microsoft, UPS, Apple. McDonald's
  • Elektroautos

Wie Italien hat Europa der Welt nicht mehr viel zu bieten: ein paar alte Marken, die vom Ruhm der Vergangenheit zehren, und gut ausgebildete Fachkräfte, die in Übersee gefragt sind und dort mehr verdienen.

Aus der Sicht der Amerikaner und Asiaten wird Europa immer billiger und eignet sich noch mehr als bisher als Urlaubsziel und Rentnerparadies. Umgekehrt werden Reisen nach Amerika und Asien für Europäer immer teurer.

--ed

 Das Pro-Kopf-Einkommen in der EU ist seit der Schaffung des Binnenmarktes im Jahr 1993 um 55 % gestiegen, gemessen an der Kaufkraftparität. Das liegt nicht weit unter dem Zuwachs von 65 %, den der durchschnittliche Amerikaner genießt. Aber die EU konnte nur mithalten, weil neue Mitglieder wie Polen sehr schnell gewachsen sind: Das Pro-Kopf-Einkommen in diesem Land hat sich fast vervierfacht. Im Gegensatz dazu ist das Pro-Kopf-Einkommen in den größeren und älteren Mitgliedstaaten der EU - Deutschland, Frankreich und Italien - im gleichen Zeitraum nur um 37 %, 35 % bzw. 20 % gestiegen.

Auch ein kniffliges Problem ist die Frage, wie man auf die enormen Subventionen reagieren soll, die China und die Vereinigten Staaten für ihre Hightech- und Umweltindustrien bereitstellen. Wenn die EU nichts unternimmt, könnte sie aus strategischen Branchen wie der künstlichen Intelligenz und den hochwertigen Halbleitern verdrängt werden.
Auf der anderen Seite wird ein Subventionswettlauf teuer werden. Er könnte auch verschwenderisch wirken, falls die EU Geld in Branchen steckt, in denen sie langfristig keine Vorteile hat.
Ein gezielter Ansatz könnte die beste Option sein. So ist es beispielsweise töricht, mit China bei Windturbinen und Solarzellen zu konkurrieren, wo es bereits Überkapazitäten gibt. Am besten wäre es, diese Anlagen zum niedrigsten Preis zu kaufen und damit die Einführung von billiger grüner Energie zu beschleunigen. Im Gegensatz dazu könnte es sinnvoller sein, die Herstellung moderner Chips zu subventionieren.

Reuters

 

Eine OECD-Statistik zeigt deutlich, warum Europa wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten ist. Vergleicht man die Jahresarbeitszeit ausgewählter Länder, sind die Deutschen (blau) am faulsten und die Mexikaner (ganz rechts) am fleißigsten. Von den großen Industrieländern sind die USA (grün), Polen, Tschechen, Russen und Koreaner besonders fleißig. Der EU-Durchschnitt ist nur geringfügig besser als der Negativrekord Deutschlands.

 

Weltweiter Vergleich der Arbeitsstunden

 

 Nun ist die Arbeitszeit nur in Verbindung mit der Produktivität aussagekräftig. Eine Stunde in den USA ist wahrscheinlich produktiver als eine in Mexiko, Griechenland oder Russland. Für gute Produktivität spricht beispielsweise die Tatsache, dass es den Deutschen gelingt, trotz ihrer niedrigen Arbeitszeiten einen -- freilich nur im europäischen Vergleich -- relativen Wohlstand beizubehalten.

--ed

Der deutsche Müssiggang ruft natürlich kritische Stimmen wie die von Joachim Wenning auf den Plan"Warum wird beispielsweise nicht die gesetzliche Höchstarbeitsdauer von täglich zehn Stunden für nicht Leitende gestrichen? Warum werden nicht einfach ein paar gesetzliche Feiertage gestrichen? Es gibt keinen Grund, warum Bayern deutlich mehr Feiertage als Hamburg oder Deutschland als viele andere Länder benötigt. Und warum können Deutsche nicht später in Rente gehen? Sie leben doch auch länger."

Andere Stimmen meinen, die frauentypische Teilzeitbeschäftigung lasse die Statistik in Deutschland unnötig negativ erscheinen. 

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