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Eine Rettungsaktion für Italien

 

Die Voraussetzungen

   Italien hat eine Regierung, die bereit ist, alle Tabus zu brechen, neue Wege zu suchen und die dringend einen grossen Erfolg braucht. Diese Regierung stellt ein potenzielles Kapital dar, denn sie bietet einen Weg in Richtung auf ein neues Euroland.

Das Frankreich von Macron fordert die Erneuerung Europas und bietet sinnvolle Reformvorschläge.

Die USA von Donald Trump versuchen, Europa wie eine Kolonie zu behandeln, die EU und Euroland zu unterminieren und die zentrifugalen Tendenzen zu unterstützen.

Das Russland Putins stärkt ebenfalls Europas zentrifugale Kräfte und hofft wie Trump auf den Zerfall des Staaatenbunds.

China wartet, dass Europa zerfällt und es Zerfallprodukte wie Griechenland und Italien billig unter seine wirtschaftliche Herrschaft bringen kann. So würde China ein Teil Europas werden, ohne formell Land zu besitzen.

Das Deutschland Angela Merkels ist müde und rettet sich von einem Tag in den nächsten. Ihm fehlen Vision und Kraft für eine Reform Europas. Dennoch verfügt allein Merkel über die Statur und das Prestige, die erforderlich wären um radikale Schnitte und einen Neufanfang zu wagen.

Die Ausgangslage

   Italiens neue Regierung hat Abwehrreflexe ausgelöst. Die Nachbarländer verstärken ihre Grenzkontrollen, um die erwartete Massenflucht illegaler Migranten aus Italien zu verhindern. Brüssel und andere Hauptstädte überlegen fieberhaft, wie man finanziellen Provokationen aus Rom entgegentreten kann und wie man Italien beistehen kann, wenn seine gewaltigen Staatsschulden von derzeit 2,28 Billionen Euro von den Rating-Agenturen auf Ramschniveau herabgestuft werden und die Käufe der Europäischen Zentralbank damit automatisch enden, weil ihrer Offenmarkt-Politik nur der Handel mit erstklassigen – gewissermassen mündelsicheren – Papieren erlaubt ist.

   Seit März 2015 hält die EZB Italien mit ihren Aufkäufen von Staatsanleihen über Wasser. Kommt diese Aktion, was bei der neuen Regierung trotz ihrer zunächst lammfrommen Erklärungen wahrscheinlich ist, aus technischen Gründen zu einem brüsken Ende, dann schiessen die Risikoufschläge (spread) für italienische Staatspapiere derart in die Höhe, dass Rom und seine Gebietskörperschaften praktisch vom Geldmarkt ausgeschlossen werden.

   Da aufgrund der hohen existierenden Schuld laufend grössere Umschuldungen vorgenommen werden müssen besteht akute Gefahr, dass Italien fällig werdende Schulden nicht mehr bedienen kann: Staatsbankrott. Selbst wenn die Regierung der Versuchung widersteht, die vorhandenen erfahrenen Schuldenmanager durch unerfahrene Parteileute zu ersetzen, muss mit dem Schlimmsten gerechnet werden.

   Damit kommt Euroland in Zugzwang. Wie allgemein bekannt, darf Italien wegen seiner Bedeutung und der Grösse seiner Verschuldung nicht bankrott gehen. Frankreichs Banken und die deutsche Commerzbank halten Milliarden italienischer Staatspapiere in ihren Portefeuilles, von Italiens Banken ganz zu schweigen. Im Prinzip müssten die Banken die italienischen Anleihen schon jetzt als notleidend einstufen, was ihnen enorme Liquiditätsprobleme beschert, vor allem, wenn sie für den Kauf der offiziell als mündelsicher geltenden Papiere kein Eigenkapital einsetzen mussten.

   Kommt Italien in die Bredouille, so wird das restliche Euroland hastig und verzweifelt nach Milliarden suchen, mit denen man Italiens Löcher laufend stopfen kann. Und kein Ende ist in Sicht. Merkels Europäischer Währungsfonds existiert bislang so wenig wie Macrons Fiskalkapazität.

   In dieser peinlichen Lage – einer finanziellen Erdbebenzone – kann jeder handwerkliche Schnitzer einer unerfahrenen und ideologisch aufgeladenen Regierung ebensolche Schocks auslösen wie tapsige und ungeschickte Politik in Brüssel oder Berlin. Und mit jeder Milliarde, die die Partnerstaaten in das italienische Loch stecken. würden die Parteigänger der europhoben Koalitionsregierung in Rom triumphieren: wir haben Brüssel und Berlin gezwungen, für uns zu zahlen! Das Missvergnügen im Norden kann man sich vorstellen. Vor allem, da jede Regierung in Rom mit der Drohung des Staatsbankrotts das Euroland und mit ihm die ganze sich vor einem Crash fürchtende OECD stets aufs Neue erpressen kann.

   Angesichts solcher düsteren Perspektiven muss man fragen: geht es nicht auch anders?

 

Das Projekt

   Es könnte auch anders gehen. Statt mit einem veralteten Werkzeugkasten am chronischen Reparaturfall Italien zu basteln, könnte man den Mut zum erlösenden chirurgischen Eingriff finden. Die Eurozone müsste endlich das tun, was Amerika 1790 tat, als die Zentralregierung die Schulden der durch den Befreiungskrieg schwer verschuldeten Nordstaaten übernahm.

   Die wenig oder garnicht verschuldeten Südstaaten opponierten damals erfolgreich gegen die Schuldübernahme. Um sie zu besänftigen wurde ihnen zugesagt, dass die neue Hauptstadt (Washington DC) im Süden liegen solle, nämlich an der Grenze zwischen Maryland und Virginia.

   Heute sind es die Nordstaaten der EU, die gegen die Übernahme der Schulden der Südstaaten opponieren. Leider gibt es in Europa keine Hauptstadt mehr zu vergeben: wir haben schon zwei – Strassburg und Brüssel; beide liegen übrigens im Norden. Auch stammen die Schulden des Südens nicht aus einem heroischen Krieg, sondern von rücksichtsloser Ausgabenfreude und Korruption. So sehr man darüber die Nase rümpfen mag; die Schulden, vor allem die Italiens, sind leider da und führen ihr Eigenleben.

   Wenn ich dennoch heute der Schuldenübernahme das Wort rede, so, weil ich keine andere Lösung sehe. Ich spreche nicht von Griechenland, dessen Schulden längst ausschliesslich von staatlichen und internationalen Trägern gehalten werden. Ich spreche von Italien, dessen Schulden nur zu einem kleinen Teil bei einer supranationalen Behörde– der EZB – liegen.

   Um aus der finanziellen Erdbebenzone heraus zu finden, muss Italiens Staatsschuld, die seit 2013 um rund 130 Prozent des Brutto-Inlandsprodukts oszilliert, auf ein glaubhaft bedienbares Mass reduziert werden. Auf, sagen wir, die Hälfte. Mit Restschulden in Höhe von 65 Prozent des BIP wäre Italien ein normaler europäischer Staat, der uneingeschränkten Zugang zu den Geldmärkten hätte. Die restliche Eurozone müsste Schulden in Höhe von rund 1,15 Billionen Euro übernehmen. Als Vehikel dafür empfiehlt sich die Fiscal Capacity, die Frankreichs Präsident Macron vorschlägt. Sie soll ein Instrument zur Harmonisierung der einzelstaatlichen Steuerpolitik werden. An sie könnte eine Hälfte der Schulden des italienischen Staats, der Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen abgetreten werden. Sie könnte mit Beratung durch den von Kanzlerin Merkel vorgeschlagenen Europäischen Währungsfonds die Schuldenverwaltung und -bedienung betreuen und die Last auf die einzelnen Euro-Staaten verteilen. Deutschland müsste sich gemäss seinem Anteil am Kapital der EZB mit 28 Prozent an der Teil-Entschuldung Italiens beteiligen, also mit einem Betrag von 638 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Deutschlands Anteil am Rettungspaket für den Euro von 2010 betrug 123 Milliarden Euro. Das deutsche Brutto-Inlandsprodukt beträgt gegenwärtig rund 3,3 Billionen Euro.

   Wichtig ist, dass man bei der teilweisen Entschuldung Italiens die ausländischen Kreditoren nicht bevorzugt. Man darf nicht, wie es in Griechenland geschah, ausländische Banken und Investoren bedienen und die italienischen Sparer und Banken im Regen stehen lassen. Das Resultat wäre statt der erwarteten Rettung der Kollaps der Wirtschaft Italiens.

   Wenn…. ja wenn man italienischen Politikern nur trauen könnte, dass sie nicht nach der Teil-Entschuldung in die alte Schlamperei zurückfallen werden. Leider kann man ihnen so wenig trauen wie ihren Kollegen in Griechenland.

   Deshalb muss man von Rom verlangen, dass es im Zuge der partiellen Entschuldung seine finanzielle Souveränität in Brüssel abgibt. Kein Finanzministerium mehr in Rom, nur eine ausführende Behörde. Selbst wenn Italiens Regierung und Parlament zu diesem Schritt bereit wären, reicht das noch nicht. Denn Italien braucht Hilfe für die Reformen, um die sich seine Regierungen und Parlamente seit Jahrzehnten drücken. Mit anderen Worten: Italien braucht eine Troika nach griechischem Vorbild. Doch so schlimm wie in Griechenland braucht es nicht zu werden, denn die Troika könnte von Italienern geleitet werden.

   Italien verfügt auf allen Sektoren über hervorragende und unbestechliche Fachleute – ich denke an Personen wie Carlo Cottarelli oder Carlo Calenda – die das Land von Grundauf reformieren würden, wenn man ihnen die Macht gäbe und sie vor den klassischen Politikern, den Mafias, den Gewerkschaften und den Lobbyisten in den Parlamenten schützt.

   Im Prinzip ist Italiens Wirtchaft ein selbst gefesselter Riese. Trotz der übermächtigen und zynischen Bürokratie, trotz schlechtem Schulwesen und lebensfernen Studiengängen, trotz dem Druck der organisierten Kriminalität und der Misere der Justiz ist Italiens Industrie vital und glänzt mit guten Zahlen. Die vielen tausende kleiner und mittlerer Betriebe sind robust, eminent fleissig und erfindungsreich, auch in der Steuervermeidung. Sie schaffen es zu überleben, obwohl der Staat, seine Institutionen und die allgegenwärtigen Monopolformen und Gewerkschaften sich bemühen, sie mit Steuern, Abgaben und Vorschriften platt zu machen.

   Italien mit Hilfe aus Brüssel und einer Troika: das könnte eine grosse Erfolgsstory werden.

   Für Merkels Deutschland ist die Idee, freiwillig einen grossen Teil der Hälfte von Italiens Staatsschulden zu übernehmen, heute inakzeptabel. Selbst wenn die ökonomische Logik sagt, dass die Alternative dazu eine langsame, häppchenweise Schuldenübernahme wäre, die Italien so liesse wie es bis jetzt ist: mit finanzieller Souveränität und einer Regierung, die Brüssel und Berlin für das Zahlen-Müssen möglicherweise noch verspottet. Man stelle sich die Kommentare der Bild-Zeitung vor !

   Es ist Zeit, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Wir Europäer sitzen nolens volens ganz eng beeinander im gleichen Boot. Mit jedem Jahr wächst Europa mehr zusammen, verstärken sich Sprachkenntnis und Dialogbereitschaft über Grenzen hinweg, die man dank Schengen und Euro kaum mehr wahrnimmt. Ein Italiener ist in Deutschland längst kein Ausländer mehr – das sind die Nigerianer, Afghanen, Tschetschenen. In Italien gilt die Deutsche vielleicht als skurril, aber nicht als Fremde. Die Kultur kennt ohnehin keine Grenzen. Zwischen Flensburg und Altötting ist der Abstand vielleicht grösser als zwischen Altötting und Corleone.

   Und noch etwas: wer weiss schon, welche Bedeutung Italien langfristig für die Zukunft der Deutschen haben wird? In einer Zeit rapiden Klimawandels kann man sich offenbar nicht darauf verlassen, dass der Golfstrom weiterhin brav den Norden Europas heizt. Endlose kalte Winter würden die Begeisterung der Deutschen für den sonnigen Süden in ungeahnte Höhen treiben: Italien, Griechenland und vielleicht Marokko könnten eine neue Heimat für Millionen Deutsche und andere Kälteflüchtlinge bieten. Spinnerei? Wer weiss das schon. Auch dies ein Grund, unsere Nachbarn nicht mit unnötiger Härte zu verprellen.

 

Fazit

   Die Zeit ist reif für eine grosse Rettungsaktion. Eine neue Regierung in Italien ist erfolgshungrig und unkonventionell. Frankreich fordert einen europäischen Neuanfang. Nun ist Kanzlerin Merkel gefragt. Sie allein besässe die Statur, eine solche Aktion zu fordern und zu starten. Sie hat mehr als einmal bewiesen, dass sie ihre Einstellung über Nacht um 180 Grad wenden kann, wenn sie zu dem Schluss kommt, dass es nicht wie bisher weitergeht. Sie hat diese Schnellwendung, die der Angelsachse flipping nennt und der Italiener dietrofront, bei der Energiewende und bei der Grenzöffnung für die syrischen Flüchtlinge vollzogen. Nun ist es wieder Zeit für eine Merkel’sche Wendung um 180 Grad.

Heinrich von Loesch

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