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Deutschland, gut oder schlecht?

   Als wir 1946/47 nach der grossen Zerstörung erwachten und versuchten, uns in dem neuen Leben einzurichten ohne zu verhungern, da gab es keine Option Deutschland.

   Deutschland war ein Begriff der grauenhaften Vergangenheit, mit dem wir Jungen nichts mehr zu tun haben wollten. Wir lebten in einem Vier-Zonen-Land. Wurden von Besatzungsmächten regiert und fanden daran auch viel Gutes. Unsere Helden hiessen Lucius D. Clay, Herbert Hoover und John McCloy. Clay und McCloy regierten uns mit freundlicher Strenge und Hoover schenkte uns die höchst willkommene Schülerspeisung. Wir hörten AFN unf RIAS für die neueste Musik und lasen mit der Neuen Zeitung das vielleicht beste Blatt, das je in Deutschland erschienen war, redigiert von Hans Wallenberg und später Jack Fleischer. Wir lasen genüsslich Das Wespennest, eine kritische Zeitschrift von Werner Finck. Wir erfuhren durch Eugen Kogons Der SS-Staat noch mehr über die grauenhaften Verbrechen, die im Namen Deutschlands begangen wurden.

   Wie gesagt, für uns Jungen gab es keine Option Deutschland. Wir hätten jede neue Staatsform akzeptiert; wir träumten von der Idee, ein amerikanisches Übersee-Protektorat zu werden, eine Kolonie gewissermassen. Wir hätten auch nichts gegen Adenauers Vision von einem erweiterten Elsass-Lothringen bis zur Elbe gehabt: wir liebten die französische Armee-Messe in Tübingen, wo man mit den Soldaten Tisch-Fussball spielte, Gitanes rauchte und vin ordinaire trank.

   Man diskutierte auch Leopold Figls Idee von einem neutralen Alpenstaat, einer Fusion Österreichs mit der Schweiz und Bayern, der schon daran gescheitert wäre, dass die stolzen Eidgenossen nichts mit den österreichischen und bayerischen Schlawinern zu tun haben wollten.

   Wenn man von der Ostzone und ihrem Sonderschicksal absieht, war die Besatzungszeit in unserer Sicht sehr positiv. Ein Land ohne deutsche Regierung, das war gut. Als die Besatzer sich später zurückzogen, stimmte uns das traurig. Der AFN, der uns Englisch gelehrt hatte, wurde eingestellt. Die Neue Zeitung ebenfalls, für die die 1945 mit Willy Brandt und Ted Kaghan als Zensoren gegründete Süddeutsche Zeitung nur ein schwacher Ersatz war. Dann verschwand auch der RIAS, geleitet von der wunderbaren Marianne Regensburger.

   Was tun mit dem besetzten Land? Die drei Westmächte einigten sich, aus ihren Zonen ein neues Rumpfdeutschland entstehen zu lassen. Und es entstand: mit Grundgesetz, Parlamenten, Landesregierungen und einer Bundesregierung. Mit Christenparteien, Sozialdemokraten, Kommunisten und Revisionisten verschiedener Couleur. Mit einem Auswärtigen Dienst und bald sogar mit einer Bundeswehr und Wehrpflicht.

   Das alles geschaffen von den Vätern, Müttern, Grossvätern und Grossmüttern, die das Glück hatten, den Krieg überlebt zu haben. Uns Junge fragte niemand. Die Alten bescherten uns ein Deutschland, das uns fremd war. Wir schauten uns das Personal dieses Deutschlands an und fanden zu unserer Überraschung sogar ein paar Leute, die man sympathisch finden konnte. Einen Theodor Heuss, einen Carlo Schmid. Einen Werner Finck. Einen Rudolf Augstein. Einen Willy Brandt.

   Aber im Grunde sind wir in diesem Deutschland nie heimisch geworden. Es fuhr schneller ab als wir zuschauen konnten. Mit Adenauer in die Montanunion und in die NATO, mit Erhard in die Vermögen zerstörende Währungsreform und das aus Ruinen entstehende Wirtschaftswunder. Deutschlands Dynamik überfuhr uns, vereinnahmte uns. Wir wurden zu Bürgern eines Staates gemacht, den wir eigentlich nicht gewollt hatten und den wir eigentlich nicht mochten. Wir trösteten uns mit der Annahme, dieser Staat sei wohl alternativlos und ein typisches kleineres Übel. Aber eigentlich rumorte es in uns.

   Dann kam irgendwann die 68er-Bewegung und mit ihr die RAF. Beides erschien uns blöde und oberflächlich. Vor allem erschien es uns deutsch in einer Weise, die wir abzulehnen und zu verachten gelernt hatten. Wir mochten weder die Grossväter, die diesen Staat geschaffen hatten, noch die Enkel, die durch ihre Proteste diesen Staat nur bestätigten und stärkten, um ihn wenige Jahre später genussvoll von den Alten zu übernehmen, umzugestalten und an der Macht zu verspiessern.

   Der Aufstieg der grün-roten 68er-Spiesser machte diesen Staat nicht sympathischer. Einmal der Macht nahe, verbündeten sie sich mit dem erfolgreichen konservativen Establishment, seinen Wirtschaftslobbies und Wirtschaftsmedien, die gewohnt sind, diesen Staat durch die christlichen, liberalen und sozialdemokratischen Parteien zu regieren.

   Dann kam die Erfindung des Smartphones und mit ihr die grosse Flüchtlings- und Migrationswelle von 2015. Eine ungeschickte Spontanhandlung der Kanzlerin lenkte die Welle in ein im Prinzip immer noch xenophobes Land und beförderte den Aufstieg einer Rechtsaussen-Partei, die sich dieser Xenophobie politisch annahm und damit bis heute grossen Erfolg hat.

   Nun kommt ein junger Mensch, Rezo genannt, der die C-Parteien und die Sozialdemokratie pauschal für alles verantwortlich macht, was seit Staatsgründung falsch gelaufen ist und weiterhin falsch läuft. Er wirft den Parteien Heuchelei und Lügen vor. Wer diesen Staat seit 1949 beobachtet hat, kann ihm nur zustimmen und sich freuen, dass es ihm mithilfe eines sozialen Mediums gelungen ist, die Fakten einem Millionen-Publikum vor Augen zu führen. Ob sein Blickwinkel links oder rechts, grün oder rot ist, ist ebenso nebensächlich wie die Frage, ob alle seine Fakten stimmen. Der beleidigte Aufschrei des Establishments und seiner Wirtschaftsmedien zeigt, dass Rezo ins Schwarze getroffen hat.

   Das Problem lautet nun: wenn die C-Parteien und die Sozialdemokratie diskreditiert und nicht mehr wählbar sind – wie es eine Gruppe von Influencern postuliert – was dann? An wählbaren Parteien bleiben den Deutschen nur noch zwei: die Grünen und die Liberalen. Der linke und der rechte Rand disqualifizieren sich stets aufs neue. Wo also ist eine wählbare neue Mitte ohne eine Auswahl von Skeletten im Schrank? Eine Kraft, die Deutschland inter pares führen könnte, beispielsweise mit Grosszügigkeit gegenüber den Nachbarn statt mit dem Egoismus, der Reparationsansprüche von Griechenland, Italien, Polen, von Zwangsarbeitern oder Restitutionsklagen ohne lange zu prüfen mit juristischen Finessen abschmettert. Eine neue Mitte, in der sich auch ein Rezo wohlfühlen könnte, und nicht nur er.

   Natürlich kann man so weitermachen wie bisher. Die inkriminierten Parteien könnten hoffen, dass die Kritik von Rezo und Seinesgleichen in der nächsten Generation vergessen sein wird. Dass aus Mangel an einer neuen Mitte die Leute weiterhin die alten Parteien wählen werden. Selbst wenn es eine neue Partei gäbe,  würde sie von den Politikern wohl schleunigst in eine traditionelle Partei mit all ihren Fehlern verwandelt werden, wie es die Fünf Sterne in Italien gerade demonstrieren.

   Man könnte aber auch einen Neuanfang wagen. Deutschland braucht einen Macron, eine EnMarche. Der Bundesanzeiger sollte vielleicht eine Stellenausschreibung veröffentlichen: Kanzlerin oder Kanzler gesucht. Standort Berlin. Erwünscht Mehrsprachigkeit und Welterfahrung, Mindestalter: 27 Jahre, usw.usw.

Heinrich von Loesch

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