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Daesh: ein moderner Ritterorden

 

   Was hat der Johanniter-Orden mit dem Schreckensstaat des Kalifats in Syrien und Irak zu tun?  Ziemlich viel.

   Beide sind in ihrem Ursprung spontan entstandene religiöse Vereinigungen, die sich der Rettung des Abendlandes bzw. des Morgenlandes verschrieben haben. Die Johanniter, ihr Pendant die Malteser, und die Ritter des Heiligen Grabes entstanden während der Kreuzzüge, die die heiligen Stätten vor dem Islam schützen sollten. Der Daesh (IS. ISIS, ISIL) versucht, die Bekehrungs- und Eroberungstätigkeit Mohammeds und der frühen Kalifen fortzusetzen und sich die heiligen Stätten anzueignen.

   Die christlichen Ritterorden und der Daesh sind Institutionen, die die Frömmigkeit von Mönchsorden mit der Wehrhaftigkeit von Ritterbünden vereinigen. Die Ritterorden – selbst ihre modernen Nachfolger -- fordern strenge Gläubigkeit und haben ihre eigene Gerichtsbarkeit. Der Daesh fordert die Befolgung strenger Gläubigkeit gemäss einer eigenwilligen Interpretation des Korans, und betreibt eine eigene Gerichtsbarkeit.

   Ritterorden und Daesh sind im Prinzip kriegerische Männerbünde. Während die Ritter – religiös zur Keuschhheit und zum Gehorsam verpflichtet, wenn sie zum Kreuzzug aufbrachen -- ihre Damen mit einem Keuschheitsgürtel bewehrt zuhause liessen, kennt der Daesh keine Keuschheitsvorschrift, fordert stattdessen Alkohol- und Tabakabstinenz und bestraft den Ehebruch (der Damen).

   Die Ritterorden rekrutierten ausschliesslich (bis ins 20. Jahrhundert) Abkömmlinge des Adels. Vor der Aufnahme in den Orden musste der Nachweis adliger Abstammung geliefert werden. Daesh geht das Problem der Elitenbildung anders an: durch Aufnahme in den Bund wird der Kandidat gewissermassen geadelt. Vorher war er ein nobody; erst durch die Aufnahme in den Daesh wird er zum Auserwählten, zum Paradiesanwärter, zur religiösen Autorität als Vertreter des Kalifats, zum potentiellen Helden.

   Auch die Rolle der Damen ist ähnlich. Während die Burgfräulein in ihren Kemenaten ihre Recken anschmachteten, so idealisieren die Fundi-Bräute ihre vollbärtigen Kämpfer und Selbstmordkandidaten, drängeln sich, Zweit- oder Drittfrauen in einem Mini-Harem in Syrien oder Irak zu werden. Zwei junge Wienerinnen bosnischer Herkunft wurden berühmt, als sie zu Daesh nach Syrien reisten. Eine von ihnen, Samra Kesinovic, 17, konnte nach einem Jahr das Gemetzel nicht mehr ertragen und versuchte zu fliehen. Sie wurde gefasst und offenbar totgeschlagen.

   Daesh ist heute ähnlich attraktiv für Muslime wie es die Orden für Christen seinerzeit waren. Das Narrativ ist das gleiche, nur in Gegenrichtung. Wie Maurizio Molinari, der neue Chefredakteur der Zeitung La Stampa in seinem soeben erscheinenden Buch Jihad. Guerra all'Occidente (Rizzoli) darstellt, ist das grosse Ziel des Daesh der Marsch auf Rom, analog der Jerusalem-Fixierung der Kreuzzügler.

   Um das Ziel zu erreichen, wolle Daesh die Häfen des Libanon und Syriens erobern, um von dort den Krieg nach Europa zu tragen. Der Terror in Europa bezwecke, Parteien der extremen Rechten an die Macht zu bringen, deren Xenophobie und Islamophobie die Moslems zum Dschihad und zu Daesh treiben werde. sagt Molinari.  Den Daesh als eine Bande von Psychopathen darzustellen unterschätze die Intelligenz dieser Leute, sagt Stanley McChrystal, der ehemalige Kommandeur der Truppen in Afghanistan und verweist aud Dokumente, die zeigen, wie ernsthaft und durchdacht Daesh seinen Staat in Syrien und Irak aufbauen will.

   Daesh und die Ritterorden verschreiben sich einer besonders strengen Auslegung ihrer Religion. Wiewohl beide Auslegungen unbezweifelbare Varianten der jeweiligen Religion darstellen, erregen sie doch Misstrauen und Kritik bei dem mainstream der Gläubigen. Die Kirche in Rom hatte starke Zweifel an der Legitimität der Ritterorden und erkannte nur die Johanniter/Malteser, die Ritter vom Heiligen Grab und den Deutschen Orden an. Da der Islam keine zentrale Führung kennt, sind es nur einflussreiche Einzelne, die sich von dem Kalifat distanzieren, darunter der Scheich von Al-Azhar in Kairo und der Prediger Yusuf al-Qaradawi in Qatar.

   Christen unter den Lesern dieses Textes dürften entsetzt sein über den hier angestellten Vergleich zwischen den Orden und Daesh. Für sie sind die Ritter und ihre Orden sehr positiv besetzte Begriffe; wegen seiner monströsen Grausamkeit, der Tücke und des Terrors gilt Daesh hingegen als extrem negativ besetzt.

   Aus islamischer Sicht dreht sich das Verhältnis um: die Kreuzritter werden sehr negativ gesehen; die Beurteilung von Daesh hingegen ist ambivalent. Einerseits lehnen viele gebildete und modern denkende Sunniten des Uebermass des Grauens und des Todeskults ab, das der Daesh wie ein Mantra pflegt. Andererseits danken viele dem Daesh seine Erfolge in der Gründung eines Scharia-basierten Sunnitenstaats im Herzen des Fruchtbaren Halbmonds und seinen Kampf gegen die Schiiten. Ihre Herzen wünschen dem kühnen Versuch der Rückkehr zu den Anfängen Erfolg und honorieren den Mut mit Geldüberweisungen, wenn nicht gar mit der Bereitschaft, sich als Mann oder Frau zu den Kämpfern zu gesellen.

   Befasst man sich mit der Geschichte der Kreuzzüge, so schwindet die positive Sicht auf die Ritterorden, die ihren Ursprung auch dem romantischen Historismus des 19. Jahrhunderts verdankt. Wo immer die Kreuzritter siegten, massakrierten sie die unterlegenen Einheimischen. Die Grausamkeiten der christlichen Kreuzfahrer haben im Bewusstsein der Muslime und der Juden tiefe Spuren und tiefes Misstraün hinterlassen, die sogar heute noch nachwirken.

   Die Mörder und Plünderer verschonten bekanntlich nicht einmal ihre christlichen Mitmenschen: über die Eroberung Konstantinopels 1208 durch den vierten Kreuzzug heisst es: Tage lang wurde gemordet und geplündert. Grausam wurden angeblich Im Namen des Herrn 2000 Griechen niedergemetzelt, die Stadt wurde gebrandschatzt und geplündert. 

   Auch bei den Kreuzzügen des Deutschen Ordens im Baltikum gegen die heidnischen baltischen Pruzzen gingen die Ritter nicht zimperlich vor:   Auch in den nächsten Jahren versuchten es prußische Abordnungen, in Verhandlungen mit dem Orden die Verringerung der Abgaben und Frondienste zu erreichen. 1261 ließ der Ordensvogt Walrod Mirabilis eine solche Abordnung im Versammlungshaus einschließen und das Haus verbrennen. Daraufhin brach in sechs Landschaften ein allgemeiner Aufstand aus.....  Während der prußischen Aufstände kam infolge von Kriegshandlungen und Umsiedlungen zweifellos eine große Anzahl von Prußen ums Leben; manche Forscher sprechen von 20 bis 50 % der Bevölkerung. Die noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert vertretene These, wonach bis zu 80 % der Prußen umgekommen seien, gilt mittlerweile als nicht mehr haltbar. Immerhin starb in der Folge die pruzzische Sprache aus.

   Bei den christlichen Orden zeigte sich die historische Tendenz, dass sie aus mildtätigen Anfängen (bei den Johannitern/Maltesern im Hospital von Akkon) sich zunächst in militante Bünde und danach durch ihre Erfolge zu Baronien und Staaten entwickelten. Im Niedergang verloren sie ihre Staaten und einen Grossteil ihres Besitzes und mutierten deshalb zurück zur der Mildtätigkeit, wie sie jetzt typisch für die protestantischen Johanniter und katholischen Malteser ist.

   Auch der Daesh knüpft an die Mildtätigkeit der islamischen Frühzeit an. Das Zinsverbot soll Schuldnern helfen; die Entrichtung der frommen Steuer, des Zakat, soll gute Werke und die Armenfürsorge alimentieren. Erstaunt neobachteten die Syrer, dass Daesh in die Infratruktur investierte, Schlaglöcher reparierte, das Gesundheitswesen förderte und Polio-Impfungen vornahm.

   ISIS helps run bread factories and provides fruits and vegetables to many families, passing the goods out personally. In Raqqa, ISIS has established a food kitchen to feed the needy and an Office for Orphans to help pair them with families.

   Ebenso wichtig ist für die 5 – 8 Millionen, die im Herrschaftsgebiet des Daesh leben, dass die Kriminalität wegen der drastischen Strafen stark gesunken ist. Auch der Betrug mit gefälschten oder schlechten Waren wird hart bestraft.

   Da der anfängliche Reichtum der Terrormiliz langsam schwindet und die Einnahmen durch Beschlagnahmungen, Enteignungen, Steuern, Abgaben, Lösegelderpressung und den Verkauf von Öl und Antiquitäten sinken, wird der Aufwand für soziale Dienste und Wohlfahrt verringert.  Der Sold des Militärs hat Vorrang. Dennoch sollte man nicht unterschätzen, welch enormen Eindruck diese sozialen Dienste in einer an Ausbeutung, Korruption und Rücksichtslosigkeit gewöhnten Region erzielten. Dieser positive Eindruck kompensiert zumindest teilweise den Schrecken der Brutaljustiz des Daesh, die in der an Folter jeder Art, Kreuzigung und Enthauptung ebenfalls gewöhnten Umgebung weniger Entsetzen erregt als in Europa oder Amerika.

   Deswegen ist die Bereitschaft, den westlichen “Krieg gegen den Terror” zu tolerieren und gar zu unterstützen, bei den sunnitisch dominierten Staaten der Region sehr beschränkt. Was das Urteil des breiten Publikums, vor allem der Jungen, anlangt, ist anzunehmen, dass der Daesh ähnlich positiv besetzt ist wie einst die Ritterorden in Europa. Die Werbekampagne des Daesh in den sozialen Medien entspricht in ihrer Reichweite und Stärke den päpstlichen Bullen zugunsten der Kreuzzüge und der Orden des Mittelalters, die von dem engen Netz der Kirchen und Klöster bis ins letzte Dorf getragen und von der Kanzel verkündet wurden.

   Nach 16 Monaten Bombardements und wirtschaftlichen Sanktionen scheint die Lage im Herrschaftsgebiet des Daesh sich dramatisch verschlechtert zu haben, wie der Guardian berichtete. Von der anfänglichen Grosszügigkeit ist wohl nicht mehr viel übrig. 

   Wurden die Orden reich und mächtig durch Jahrhunderte privater Zuwendungen und Vermächtnisse, so ist nicht verwunderlich, dass der Daesh – und ähnliche islamistische Organisationen – durch private Spenden und Stiftungen gepäppelt werden.  Die Institution des Waqf, der frommen Stiftung, ist ein traditionelles islamisches Vehikel des Ausdrucks der Frömmigkeit zu Ehren des Stifters.

   Sollte es dem Westen und seinen Verbündeten in der Region gelingen, den Daesh als Organisation und Staat zu zerstören, so wird doch die religiöse Idee überleben und eine entsprechende Struktur für soziale Dienste und Wohltätigkeit erhalten bleiben. 

   Die Zerstörung des Daesh würde jedoch das Grundproblem nicht beseitigen: das Denken und die Motivation der tausende von Leuten, die Daesh geschaffen und geleitet haben. Sie werden sich wahrscheinlich anderen islamistischen Organisationen zugesellen, werden ihr militärisches Können und ihren Radikalismus einbringen. So wie die Johanniter und andere Ritterorden von der päpstlich verordneten Auflösung des Ordens der Tempelritter und der Aufteilung ihres umfangreichen Besitzes profitierten, so würden islamistische Konkurrenten aus der Zerstörung des Daesh Nutzen ziehen.

Ihsan al-Tawil

 

 

 

 

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