Eine Militärdiktatur, was ist das?
Demokratie-verwöhnten Mitteleuropäern fällt es oft schwer, die Logik und Funktionsweise einer Militärdiktatur zu verstehen, vor allem, wenn sie wie die von Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten durch eine weitgehend freie Wahl begründet wurde. Nicht nur in Entwicklungsländern sind Militärdiktaturen häufig anzutreffen, auch am Rande Europas gab es sie vor kurzem und gibt es sie noch heute, Beispiel Weissrussland.
Als Ägypten 1952 seine erste Diktatur der jungen Offiziere erlebte, ging es noch relativ zivil zu. Gamal Abdel Nasser, dem der Verfasser dieser Zeilen persönlich begegnete, war ein intelligenter und freundlicher Herr, der zwar angeblich Hitlers Mein Kampf auf dem Nachttisch liegen hatte, aber beweisen liess sich das nicht. Die Moslembrüder mochte er nicht, denn sie versuchten 1954 ihn während einer Kundgebung zu töten, stritten aber ihre Schuld später ab. Er rief die durch die Schüsse in Panik geratene Masse zur Ruhe und sprach die berühmten Worte: "Ich werde für Eure Sache leben und für Eure Freiheit und Ehre sterben. Lasst sie mich töten, ich sorge mich nicht, so lange es mir gelungen ist, Euch Stolz, Ehre und Freiheit zu bringen."
Er liess tausende Moslembrüder verhaften und acht von ihnen zum Tode verurteilen Er begnadigte später den zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilten Gründer der Bruderschaft, Sayyed Qutb, um ihn jedoch nach einem weiteren Prozess 1966 hängen zu lassen. Diese Vorgeschichte muss man kennen, wenn man die heutige Diktatur in Ägypten verstehen will.
Noch einen Feind machte Nasser aus und verfolgte ihn: die Kommunisten. Um es auf eine Kurzformel zu bringen: Ägyptens Militär war und ist noch heute gegen Islamisten und Kommunisten. Daran hat sich in sechzig Jahren nichts geändert. Die Islamisten sind die gleichen wie damals: die Moslembrüder, jetzt Terroristen genannt. Die Kommunisten haben sich gewandelt: sie heissen jetzt Aktivisten für Freiheit und Demokratie, und ihr Symbol ist der Tahrir-Platz. Die damaligen Kommunisten und die heutigen Aktivisten haben eins gemein: sie mögen keine Militärdiktatur.
Die Offiziere, von Nasser über al-Sadat und Mubarak zu al-Sisi sind von der gleichen Überzeugung beseelt: dass nur das Militär qualifiziert ist, das Land am Nil zu regieren und in die Moderne zu führen. Dass für das Militär dabei eine dicke Scheibe des Sozialprodukts abfällt, erscheint ihnen als gerechter Lohn für die Mühe, die Elite der Nation zu sein.
Braucht Ägypten denn ein Militär? Seit Camp David hat das Land keine äusseren Feinde mehr. Eigentlich braucht die Regierung nur eine bewaffnete Polizei, um die diversen Sektierer, Terrormilizen und Kriminellen zu bekämpfen. Da die Polizei aber unzuverlässig und korrupt ist, tritt an ihre Stelle das Militär als Ordnungsmacht im Inneren, die Stabilität für Jahrzehnte schaffen will. Dadurch verschmelzen Militär und Staat, werden eins. Wer gegen die Offiziersherrschaft ist, ist gegen den Staat, mithin ein Hochverräter, der keine Gnade verdient. Das ist die Logik von Abdel Nasser bis zu al-Sisi. Das ist durchaus paternalistisch gemeint: wer die Militärherrschaft akzeptiert als die beste aller schlechten Lösungen, dem soll es gut gehen in dem erhofften stabilen, sich wirtschaftlich entwickelnden Ägypten.
Dass al-Sisi auf sechs Jahrzehnten Tradition und einer gewachsenen Beamtenschaft aufbauen kann, hilft ihm ebenso wie das einjährige Chaos, mit dem sich die Bruderschaft während Morsis Präsidentschaft disqualifiziert hat. Al-Sisi sitzt also fest im Sattel und könnte sich erlauben, mit seinen echten oder eingebildeten Feinden gnädiger umzugehen. Bislang tut er es nicht. So wie al-Qutb letztlich nach Jahren doch gehängt wurde, so droht auch Morsi -- einer intellektuell viel bescheideneren Figur -- die Todesstrafe.
Wie Putin in Russland und Erdoğan in der Türkei schwimmt al-Sisi auf eine Woge der Zustimmung. Doch die Ägypter sind launisch. Denselben Morsi, den sie mehrheitlich gewählt hatten, warfen sie nach einem Jahr aus dem Amt und jubelten seinem Feind zu. Wer weiss, was passiert wenn al-Sisi die Wirtschaft nicht wie versprochen ankurbeln kann, wenn die Golfstaaten müde werden, das korrupte ägyptische System zu subventionieren? Offenbar will al-Sisi jede mögliche Opposition ausrotten und demoralisieren, so lange die Stunde günstig ist.
Wenn man besser verstehen will, was sich in Ägypten abspielt, so lohnt es sich, einen Blick auf ein Sortiment vergangener Militärdiktaturen in der Mittelmeer-Region zu werfen. Algerien und die Türkei, aber auch Syrien unter Assad senior bieten sich an. Algeriens Beispiel ist von besonderer Bedeutung für Ägypten. Ein 1991 begonnener schleichender, aber blutiger Bürgerkrieg zwischen Militär und Islamisten endete erst, als die erschöpften Islamisten-Kämpfer die ihnen im Jahr 2000 gebotene Amnestie mehrheitlich annahmen.
Was das Selbstverständnis der Offiziere als Retter der Nation anlangt, ist jedoch eine andere Diktatur interessantes Vorbild: die der Obristen in Griechenland von 1967 bis 1974. Kurz vor einer Wahl, die entweder zu einer Beteiligung der Linken an der Regierung oder zur Verhängung von Kriegsrecht durch den König führen konnte, putschte am 21. April das mittlere Offizierskorps, geführt von Brigadegeneral Stylianos Pattakos zusammen mit den Obristen Papadopoulos und Makarezos. Ihr Putschplan funktionierte perfekt, innerhalb von 24 Stunden hatten sie ganz Griechenland in der Hand. Über zehntausend Menschen wurden verhaftet, darunter alle Politiker; wesentliche Teile der Verfassung wurden aufgehoben. Dem König Konstantin schien nichts übrig zu bleiben, als den Putschisten die Regierung zu übertragen. Er versuchte zwar noch einen Gegenputsch, scheiterte aber damit und musste ins Exil fliehen.
Nun hatten die Putschisten freie Hand, das Land nach ihrem Gutdünken zu regieren und zu manipulieren. Hier beginnt die Analogie zum Geschehen in Ägypten. Die Obristen hatten kein Problem mit der Religion, im Gegenteil. Es gelang ihnen, den Konservativen klar zu machen, dass sie das Land vor dem Kommunismus und dem manipulativen König und seiner Hofkamarilla gerettet hätten. Von nun an war das Militär das Mass aller Dinge und das nationale Vorbild. An den Hauswänden, an Felswänden, überall erschien in grossen Lettern der Slogan Zyto o Stratos -- Es lebe das Militär! Gleichzeitig bemühte man sich, Griechenlands Geschichte zu reinigen und die Erinnerung an die Jahrhunderte osmanischer Dominanz zu tilgen. Worte türkischen Ursprungs sollten aus der Sprache verchwinden, ebenso türkisch klingende Namen. Aus dem Yachthafen Turkolimano in Piräus wurde Mikrolimano, "der kleine Hafen". Die chauvinistische Aufrüstung erinnerte fatal an das Dritte Reich Deutschlands, das dekretierte, dass New York "Neuyork" heissen sollte. Wenig erfolgreich war die Kampagne der Obristen, die reiche linke Literatur und Musik Griechenlands zu bannen und ihre Originale zu vernichten.
Betrachtet man die Entwicklung in Ägypten, so sind ähnliche Trends erkennbar. Al-Sisi geriert sich erfolgreich als Retter des Vaterlands vor Islamisten und Linksaktivisten. Er schwimmt auf einer Welle des Nationalismus. Während eine Hand mit aller Härte die Brüder und ihre Mitläufer unterdrückt, sorgt die andere Hand für universale Frömmigkeit der sunnitischen Massen und Bestrafung allen unfrommen Verhaltens. Vielleicht gerade weil die Brüder im Internet behaupten, al-Sisi sei jüdischer Abstammung und habe einen Verwandten in der Knesset, ist das Regime zwar demonstrativ islamisch gesinnt, mehr als zu Nassers oder Mubaraks Zeiten, lässt Minderheiten wie den Kopten aber volle Freiheit.
Wie die Obristenherrschaft in Griechenland wird al-Sisis Junta weltweit kritisiert. Doch es gibt auch Gegenstimmen. So wie CSU-Ahnherr Franz Josef Strauss ein Fan der Obristen war, so hat sich CDU-Generalsekretär Volker Kauder lobend für al-Sisi eingesetzt. Gefiel Strauss die Härte der Hellenen gegen die Linken, so scheint Kauder von der klaren Kante gegen die Islamisten (und die linken Aktivisten?) angetan zu sein. Tempora mutantur...
Die Obristen hätten Griechenland vielleicht noch länger regieren können, hätten sie sich nicht aus panhellenischem Nationalismus in das Zypern-Abenteuer verstrickt, das zur Invasion des türkischen Militärs und zur Abtrennung Nordzyperns führte. Das griechische Marionettenregime in Südzypern kollabierte und mit ihm die Obristenherrschaft in Athen.
Angesichts der anhaltenden Unruhe in Ägypten und dem Terror der islamistischen Abtrünnigen auf dem Sinai ist al-Sisi gut beraten, keine Abenteuer ausserhalb der Landesgrenzen zu suchen. Seine Unterstützung der offiziellen libyschen Regierung in Tobruk und ihres Armeechefs al-Haftar läuft auf kleiner Flamme. Ägypten mit seinem grossen Heer und seiner schlagkräftigen Luftwaffe könnte viel mehr leisten, aber Erfahrung hat in mehreren Ländern gezeigt, dass Heere im Einsatz gegen sunnitische Extremisten erstaunliche Schwächeanfälle erleben können. Besser nicht ausprobieren...
Eine neue Entwicklung zeigt sich in Ägypten, die al-Sisi zu denken geben sollte: die rebellische links-demokratische Jugend sympathisiert zunehmend mit ihrem ehemaligen Feind, der islamistischen Jugend. Die Tahrir-Kämpfer aus dem Dunstkreis der nahe gelegenen Amerikanischen Universität (an der der Verfasser dieser Zeilen selbst studiert hat) haben nie verwunden, dass ihr Sieg über Mubarak nicht ihnen, sondern den Moslembrüdern in den Schoss fiel, die ihre Macht prompt dazu einsetzten, die Jünger der ehrwürdigen Universität zu verfolgen. Die Sieger als Verfolgte, jetzt zum zweiten Mal, denn ursprüglich wurde al-Sisi auch von der Tahrir-Jugend bejubelt, als er den verhassten und inkompetenten Morsi stürzte.
Nun aber beklagen Laizisten und Islamisten ihre gemeinsame Unterdrückung durch das Militär. Das schafft zwar noch keine Freundschaft, aber fliessende Grenzen, etwa in Gestalt gewisser islamistischer Demokraten, die weder mit den Brüdern, noch mit den Offizieren sympathisieren. Al-Sisi tut gut, dieser Jugend mehr Raum zu geben, denn die Obristenherrschaft in Athen scheiterte nicht nur wegen Zyperns, sondern auch wegen des Studentenaufstands im Polytechnikum Athen 1973, bei dem die Regierung Panzer einsetzte und es 24 tote Zivilisten gab.
Aber liest al-Sisi Geschichtsbücher? Was liegt wohl auf seinem Nachttisch?
Heinrich von Loesch