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Ist die Menschheit zum Wachstum verurteilt?

 

Ägypten: ein Beispiel

   Nach dem Zweiten Weltkrieg begann Ägyptens Bevölkerung, schnell zu wachsen mit Raten über 2 Prozent pro Jahr. Der Höchststand von 2,9 Prozent jährlicher Zunahme wurde 1979 erreicht. Auf ein paar schwächere Jahre folgten erneut Wachstumsschübe, die 2012 bis 2014 bei über 2,5 Prozent lagen. Im Jahr 2017 wurde der Zuwachs auf 2,1 Prozent geschätzt. In all den Jahrzehnten hat sich die Gesamtzahl der Kinder pro Frau zwar von 5,3 (1980) auf 3,2 (2003) vermindert. Bis 2014 stieg diese Ziffer aber erneut auf 3,5 an, um 2017 wieder auf 3,1 zu fallen.

Was soll diese Zahlenfolge aussagen?

   Dass sich seit Jahrhundertbeginn das Bevölkerungswachstum Ägyptens bei rund 2,2 Prozent Zuwachs pro Jahr mit einer Gesamtkinderzahl pro Frau von 3,2 stabilisiert hat. Mit anderen Worten: Egal, was passiert, egal welche Geburtenkontroll-Propaganda die Regierung betreibt: die Ägypter vermehren sich unverändert schnell. Von 20 Millionen 1949 auf rund 100 Millionen heute, die auf einer landwirtschaftlich nutzbaren Fläche von der Grösse Baden-Württembergs leben und ein Pro-Kopf-Einkommen auf indischem Niveau erwirtschaften, wobei geschätzt ein Drittel der Ägypter unter der Armutsgrenze lebt. 

Die rettende Banane

   Als es in den 1960er Jahren erste Hungerprobleme gab, konnte Präsident Gamal Abdel Nasser noch behaupten: “Es gibt keinen Hunger in Ägypten. Wenn jemand hungrig ist, geht er einfach in den Garten und pflückt eine Banane.” Für die Armen gibt es heute keine Gärten mehr und keine Bananen. Da seit Nassers Zeiten die Regierungen einen Grossteil ihres Budgets für Brotsubventionen ausgeben, wird der Bevölkerung eine Nahrungsversorgung suggeriert, die das Land stets am Rande des Ruins stolpern lässt. In der Zange zwischen der Drohung von Staatspleite und Brotaufständen ist keine Regierung in der Lage, genug Mittel für langfristige Entwicklung und Investitionen abzuzweigen. Man rettet sich von Tag zu Tag und hofft, dass es trotz aller Misere irgendwie weitergehen wird. Seit Nassers Tagen steckt Ägypten in der Misere und allen Unkenrufen zum Trotz ist es ja weiter gegangen mit mehr Menschen, mehr Armut, mehr Hoffnungslosigkeit.

 Den Traum der Demografen beerdigen

   Jahrzehntelang hat man sich eingeredet,  das Bevölkerungswachstum, das das Land und seine Regierungen überfordert, werde irgendwann zurückgehen. Nun aber ist es Zeit, den Traum der Demografen zu beerdigen: in Ägypten – und anderen Ländern – ist inzwischen das Wachstum der Bevölkerung chronisch geworden. Wieder aktuell wirkt die so viel kritisierte These des schottischen Landpfarrers Thomas Robert Malthus von 1789, dass die Menschheit sich so lange hemmungslos vermehren werde, bis ihr der Hunger Schranken weist.

   Ägypten ist seit Jahrzehnten der grösste Weizenimporteur der Welt. Dennoch halten die Brotsubventionen den Hunger nur mühsam im Schach. Schon vor der Jahrhundertwende endete der jahrzehntelange Trend des Rückgangs der Sterblichkeit. Seit 1996 stagniert die rohe Sterberate zwischen 5,6 und 6,5 Prozent trotz des medizinischen Fortschritts. Nicht nur Hunger im Gefolge der rapiden Bevölkerungszunahme kann als Ursache der hohen Mortalität angesehen werden: auch die extreme Belastung der natürlichen Ressourcen wirkt sich auf die Gesundheit des Volkes aus. Es gibt kaum mehr einwandfreies Trinkwasser im Lande. Der Nil als fast alleinige Wasserquelle ist zunehmend verseucht durch Fäkalien und landwirtschaftliche Abwässer. Kairo, um 1955 noch eine nette 3-Millionen-Stadt, ist auf 25 Millionen angewachsen, doch die Infrastruktur hielt nicht Schritt. Das Ergebnis ist eine Verseuchung, die allein nach offizieller Schätzung 2 Prozent aller Todesfälle verursacht. Zu den “positive checks”, die laut Malthus der Bevölkerungsgrösse Grenzen ziehen, gehört ausser Hunger und Mangelernährung offenbar die Verseuchung der Umwelt.

   Ägypten steht mit seiner demografischen Problematik nicht allein. Andere Länder im Nahen Osten und Afrika zeigen ähnliche Tendenzen. Notwendig erscheint jetzt, die offiziellen Bevölkerungsprognosen der Vereinten Nationen, der Weltbank und des U.S. Census Bureau nachzurechnen unter der neuen Annahme, dass es Länder gibt, in denen das Wachstum nicht sinken wird, wie es in Lateinamerika und weiten Teilen Asiens tat und noch tut.

   Damit sind die beruhigenden Prognosen, die für das Jahr 2100 ein Maximum von rund 11 Milliarden Erdbewohner erwarten, fragwürdig geworden. Wie viele werden es sein, wenn es Länder gibt, in denen das Wachstum chronisch geworden ist? Die immer und unablässig ihr Malthus’sches Maximum anstreben? Wenn es gelingt, die durch die Malthus’schen Checks drohenden Katastrophen einigermassen zu vermeiden, so kann sich die Bevölkerung bei etwas über 2 Prozent jährlicher Zunahme alle dreissig Jahre verdoppeln. Noch vor der Jahrhundertmitte würde Ägypten 200 Millionen Einwohner zählen, und 400 Millionen um 2080.  Unvorstellbar?

 

Ein anderes Beispiel: Äthiopien

    Ein anderes 100-Millionen-Land ist Äthiopien. Dessen alten Kaiser Haile Selassie erlebte ich in den 1960ern, als sein Reich damals etwa 22 Millionen Einwohner zählte, und in dem jedes Jahr irgendwo Hungersnot herrschte. Damals war Äthiopien ein Land besonderer Art, das von der Ausfuhr von Kaffee, Häuten und den Remittenten in Gold der Prostituierten lebte, die in Arabien arbeiteten. Seit 1960 bewegt sich die Bevölkerungs-Zuwachsrate stetig zwischen 2,5 und 3 Prozent pro Jahr,  ohne dass eine Tendenz zum Rückgang zu erkennen wäre. Im Gegenteil:  Für das Jahrfünft 2010 bis 2015 schätzt man die Zuwachsrate auf einen neuen Hochstand von 2,7  bis 2,85 Prozent. Hält das Wachstum an, dann wird in 23 -26 Jahren, also um 2040, die nächste Verdoppelung auf 200 Millionen erreicht sein. Die muslimische Hälfte der Bevölkerung wächst schneller als die christliche: die ethnischen Somali-Frauen halten den Rekord mit durchschnittlich 7,1 Kindern.

Wie bekannt, stösst das klassische Land der Hungersnöte immer wieder gegen seine Malthus'schen Grenzen, ohne dass das Wachstum der Bevölkerung dadurch wesentlich gebremst worden wäre. Weder die Entwicklung der Sterbeziffern noch die der rohen Sterblichkeitsrate lassen den Einfluss der Hungersnöte erkennen.  Freilich muss man beachten, dass die Ziffern allesamt Schätzungen darstellen, denn eine genaue Bevölkerungsstatistik gibt es nicht. 

Unvorstellbares Wachstum

   Hätte man mir, als ich 1955 in Kairo lebte, gesagt, dass das Land einmal 100 Millionen ernähren und kleiden werde, so hätte ich das als Utopie verlacht.

   Alle Prognosen des weltweiten Ressourcenverbrauchs, der Umwelt und des Klimawandels gehen von der Grundannahme einer sich langfristig stabilisierenden Weltbevölkerung aus. Wenn die Bevölkerung vor allem im Nahen Osten und in Afrika aber immer weiter wächst, ohne dass ein Maximum in Sicht wäre? Weil der medizinische Fortschritt um die Mitte des 20. Jahrhunderts ein Malthus’sches Gleichgewicht zerstört und damit ein Wachstum entfesselt hat, das von selbst nicht mehr zum Stillstand kommt?

   Ist die Welt deshalb zum Wachstum verurteilt?

Heinrich von Loesch

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