Um im Zweiten Weltkrieg Italiens Nahrungsproduktion zu maximieren, ordnete Benito Mussolini an, jeden Fetzen öffentlichen Grüns in Städten und Dörfern mit Getreide zu bestellen. Es klappte. In Parks, Gärten, an Strassenrändern: überall wurde Weizen für die Hungernden oder Hafer für die Pferde angebaut. Dann endete der Krieg, der Hunger auch. Nur das Getreide verblieb im öffentlichen Grün erhalten. Jahr um Jahr wuchs es wieder, ohne geerntet zu werden. Im Lauf der Jahrsehnte wurde es kleinwüchsiger, verzwergte, rückentwickelte es sich zu seinen Gras-Ursprüngen. Inzwischen gilt Mussolinis Korn den Pflanzenforschern als eine kostbare genetische Ressource für Züchtungszwecke. Und jedes Jahr  grüsst Mussolinis Getreide erneut die Städter und Dörfler, erinnert sie an die Hungerzeit.

   Kauft Gold! Bevor alles den Bach runter geht !  Mit diesen Worten analysierte Natalia Aspesi, die grosse alte Dame der Repubblica-Redaktion, die gegenwärtige Lage Italiens. Ich träume davon, eine Kalashnikow zu kaufen und sie statt meiner selbst  umzubringen (i.e. Salvini und di Maio), erläuterte sie, dabei den Wählerwillen, der diese beiden Herrn an die Macht gebracht hat, souverän ignorierend. Ich bin schwer verstört durch die verzweifelte Lage der Italiener.  Ich habe das Recht, ein Blutbad anzustellen!

   Eine Stimme in der Kakophonie des ratlosen, hilflosen Italiens von heute. Eine andere Stimme ist die von Franca Valeri, der bald 99=jährigen Schauspielerin und Buchautorin:  "Dieses Italien gefällt mir nicht. Mich ängstigen die, die unsere Zukunft in der Hand halten." 

   Nirgends ist die Hoffnungslosigkeit greifbarer als in der Hauptstadt Rom, wo der Staat seinen fortschreitenden Kollaps demonstriert mit den Miasmen, die aus den in der Sommerhitze verwesenden Müllbergen aufsteigen. Die geschlossenen und offenbar unreparierbaren U-Bahn-Stationen im Zentrum; die Sinti-Clans die ganze Stadtviertel beherrschen, immer mehr Stadtgebiete, die tagsüber für den alles erstickenden Verkehr gesperrt werden müssen, das alles und viel mehr demonstriert das Versagen des Staates.

   Die Ratten vermehren sich im Müll, die Möwen auch, die ihr Paradies auf der grössten Müllhalde Europas gefunden haben, in Malagrotta bei Rom. Müllberge, offizielle und unerlaubte, entzünden sich angeblich von selbst, während offizielle Müllverbrennungsanlagen defekt und stillgelegt sind. An der Via Appia, der archäologischen Meile, ist das Parfum schmorenden Mülls steter Begleiter der Wanderer.

   Auch ausserhalb Roms versagt der Staat: Das unwürdige Gezerre um den Bau der transalpinen Verbindung Turin-Lyon, die Katastrophe des eingestürzten Ponte Morandi in Genua, das Geschacher um das Besuchsrecht der Kreuzfahrt-Riesen in Venedig, die Krebsepidemie in Tarent, die der ILVA, dem grössten Stahlwerk Europas zugeschrieben wird – was auch immer, Italiens Staat erscheint unfähig, auch nur seine schlimmsten Baustellen zu schliessen.

   Italien hat sich nach dem Kollaps der bürgerlichen Parteien zwei Abenteurern ausgeliefert, denen die Verwirklichung ihrer teils hirnrissigen Wahlversprechen wichtiger ist als das Gemeinwohl. Die Italiener bangen nun, was ihre Zukunft bringen wird. Nie war die Unsicherheit grösser als heute. Und das zeigt sich im Alltag.

   Wo haben die Leute nur das Geld her? Seit eineinhalb Jahren haben sie alle neue Autos gekauft. Grössere, schönere! Ein seit 1960 in Rom lebender Deutscher wundert sich. In der Tat sieht man viele neue Vehikel, neue Nummernschilder in der Ewigen Stadt, und der Verkehr ist wie immer mörderisch.`

   Der jüngste Bericht der Bank von Italien bescheinigt der Stadt Rom eine marode Wirtschaft, die den Durchschnitt Italiens herunterzieht. Doch der Augenschein lässt eher das Gegenteil vermuten: eine blühende Wirtschaft befeuert vom Tourismus.

   Nein, nein, sagen die Statistiker: der Massentoursmus wächst zwar weiter, wird aber immer ärmlicher. In den letzten zwanzig Jahren sollen die Ausgaben der Touristen pro Kopf um ein Drittel gesunken sein. Das kann stimmen, denn statt teuren Hotels buchen die Reisenden inzwischen lieber billige Bed & Breakfasts per Internet, statt kostspieligen Restaurants frequentieren sie die tausenden Imbiss- und Pizzastuben oder die rollenden Getränkebars. Vor den bei Tripsadvisor angesagten Eisdielen stehen lange Schlangen, in das Restaurant daneben verirren sich wenige Fremde.

   Doch woher kommen die vielen neuen Autos? Das Geheimnis heisst Italexit. Seit Jahren wird spekuliert, dass Italien irgendwann aus dem Euro austreten und seine eigene Währung, eine neue Lira, lancieren könnte. An einem Wochenende, aus heiterem Himmel. Seit den Europawahlen und dem verblüffenden Aufstieg des Lega-Bosses Matteo Salvini wird die Euro-Furcht ernster als zuvor genommen. Das Gerede úber eine mögliche Parallelwährung Minibots verstärkt die Nervosität.

   Eines ist klar: wenn Italien den Euro verlässt, ist das süsse Leben zuende, kehrt die alte Armut zurück. Schicke ausländische Autos: vergiss sie, sei froh, wenn Du Dir noch einen Fiat leisten kannst. Die neue Währung dürfte mit einem Wertverlust von etwa vierzig Prozent gegenüber dem Euro antreten. Spanische Weine, amerikanische Rasierklingen, kenianische Schnittblumen – all der schöne Lebensstandard, die Zugehörigkeit zu einer Weltoberschicht, an die man sich so lustvoll gewöhnt hat, wären zum Teufel. Die billigen Kredite der Nullzins-Epoche wären nur noch ein ferner Traum – man wäre wahrscheinlich zurück in den zweistelligen Zinsen der Vor-Euro-Zeit. Und das Volksvermögen, ausgedrückt in Euro oder Dollar, wäre um 40 Prozent geschrumpft, über Nacht.

   Das alles ist den Italienern – zumindest den Geschäftsleuten unter ihnen – durchaus klar. Nicht umsonst wollen 60-70 Prozent der Italiener den Euro unbedingt behalten. Aber ob sie ihn behalten dürfen oder können?

   Die Furcht, den Euro zu verlieren, treibt die Wirtschaft in zwei wichtige Richtungen: eine davon ist der Drang, sich einen Vorrat an ausländischen Produkten zuzulegen, die der Währungswechsel drastisch verteuern würde – zum Beispiel grosse deutsche, schwedische oder amerikanische Autos. Seit Fiat Amerikas Chrysler übernommen hat, wimmelt Rom von Jeeps in der Klasse von 40.000 bis 100.000 Euro. Dazu gibt es etliche in Lancia umgetaufte Dodges und Chryslers.

   Obwohl die staatlichen Investitionen in der Stadt Rom seit 1998 von einer Milliarde Euro jährlich auf 100 Millionen geschrumpft sind, läuft die Wirtschaft der Kapitale irgendwie weiter, vielleicht dank der Angstkäufe, die das Euro-Gerede provoziert.

   Das andere Phänomen, das die Euro-Furcht hervorbringt, sind das Horten von Bargeld und die Kapitalflucht ins Ausland.. Wer Bares hortet, kann den möglichen Währungskollaps ein bisschen abfedern. Vizepremier Salvini weiss das, und er bietet den Hortern von Schwarzgeld in Banktresoren eine staatliche Geldwäsche an, einen condono. Wenn sie zirka 15 Prozent Einmal-Steuer auf ihr Schwarzgeld entrichten, wird es dadurch legalisiert. Salvini spricht von hunderten Milliarden in den Bankfächern: er weiss, wovon er redet. Vielleicht besitzt er als guter Italiener selbst einen Tresor.

   Sein versprochener Condono hat nur einen Haken: Bargeld ist in Italien rund 20 Prozent mehr wert als Buchgeld oder Bankgeld. Der Unterschied entspricht dem Hebesatz der Mehrwertsteuer. Das meiste Schwarzgeld ist wohl durch Vermeidung der Umsatzsteuer entstanden: warum sollten die Sparer 15 Prozent zahlen um es zu legalisieren, wenn es in einem bargeldsüchtigen Lande ohne viel Mühe auch schwarz verwendet werden kann?  Schwarzgeldgeber und Schwarzgeldnehmer eint die Überzeugung, dass Steuervermeidung nicht nur klug ist, sondern auch eine Art Bürgerpflicht, mit der sich der einfache Mann gegen die existenzgefährdende Steuerlast wehrt.

Jahre harten Sparens um die fortschreitende öffentliche Verschuldung einzuudämmen haben nicht nur die Infrastruktur Italiens schwer geschädigt, sondern auch die staatlichen Dienste und Funktionen ausgezehrt. In den meisten Amtsstuben zwischen Bozen und Agrigent ist die Hälfte der Stühle unbesetzt. Von den verbliebenen Beamten und Angestellten ist in vielen Ämtern die Hälfte über 60 Jahre alt. Junge unter 30 sind ausserhalb des Militärs rar. In den Finanzämtern fehlen 7000 Mitarbeiter um den Mindest-Personalstand zu erreichen, der für die Bekämpfung der Steuerhinterziehung erforderlich wäre, wie dem Forum PA 2019 berichtet.wurde. 

   Das neueste Beispiel staatlicher Blutsaugerei sind zwei Steuern, TASI und TARI, die den Hausbesitz beziehungsweise das Wohnen belasten. TASI wird von den Gemeinden erhoben um generelle kommunale Dienste zu finanzieren wie beispielsweise Strassenbeleuchtung und Gehwegreinigung. TARI hingegen soll die Umweltbelastung kompensieren, nämlich die Müll-, Rauch- und Stauberzeugung durch den einzelnen Bürger. Es handelt sich um heftige Summen: Der Eigentümer eines Schuppens am Stadtrand kalkuliert, dass ihn die TARI zusätzlich zu den Gebühren der Müllabfuhr und der Einkommensteuer in drei Jahren 100.000 Euro kosten würde und ihn daher zwingt, sein Geschäft aufzugeben.

   TASI und TARI erinnern an historische Beispiele kreativer Fiskalität wie beispielsweise der Fenstersteuer im alten Europa oder in Virginia der Zimmersteuer im 19. Jahrhundert, die das Errichten von Einbauschränken verhinderte, weil jeder Schrank wie ein Zimmer besteuert wurde. Gibt es in Italien noch mehr zu besteuern? Die Atemluft vielleicnt, oder den Duft der kommunalen Lindenblüten?

   Es ist anzunehmen, dass die Euro-Gerüchte die Bargeldliebe der Italiener kräftig fördern und damit der Schattenwirtschaft neue Impulse geben. Dieser Zustand dürfte anhalten, solange Italiens Mitgliedschaft in der Eurozone als wackelig gilt. Zu den Italexit-Propheten gesellt sich die Gruppe der Total-Pessimisten, die vom Italexit den Untergang der Euro-Währung schlechthin erwarten-- sie denken wie Natalia Aspesi an Wertspeicher wie Gold.

   Wie gross ist die Schattenwirtschaft heute? Niemand weiss es.  Der Augenschein lässt vermuten, dass die sichtbare Vitalität der italienischen Wirtschaft sich wesentlich der Statistik entzieht. Dass die Mafias längst den Autokonzern Fiat als grössten Arbeitgeber abgelöst haben, ist bekannt aber statistisch nicht nachweisbar. In Jahrzehnten haben die Mafias, aus dem ihnen stets untertanen Süden kommend, den industriellen Norden – vor allem die Lombardei und Ligurien – durchdrungen.

   Nach dem Untergang der bürgerlichen Parteien und der Schwäche des Staates muss man fragen: gibt es noch wohl organisierte Strukturen in Italien, die Verantwortung für das Land übernehmen könnten?. Es gibt noch zwei: die Kirche und die Mafias.

   Kein Wunder, dass Salvinis Lega die Unterstützung dieser beiden Mächte braucht und sucht, wenn sie eine breit basierte Volkspartei werden will.

   Salvini weiss, dass ohne Ndrangheta in Kalabrien, Camorra in Kampanien, die Sacra Corona Unita in Apulien und die Cosa Nostra in Sizilien nichts im Süden geht. Die Sippen stellen dort die eigentliche Regierung dar: ihre Ursprünge sind Jahrhunderte alt. Ihre Geschäfte laufen blendend, allerdings auf Kosten der Allgemeinheit. Ohne sie könnte sich der Süden vielleicht entwickeln; mit ihnen ist er zur Rückständigkeit und Armut verdammt. Was den Mailänder Salvini nicht weiter betrübt, so lange die Basis der Lega im Süden weiter so wächst, wie die Europa- und Kommunalwahlen zeigten.

   Die Politik Italiens war stets mehr von Personen als von Parteiprogrammen bestimmt. Mit Salvini ist wieder eine expansive Persönlichkeit ins Rampenlicht getreten, hinter der die Partei verblasst. Gespannt fragt sich Italien – und mit ihm Europa – wie wird es mit Salvini weitergehen? Wird er nach kurzem Triumph verglühen wie seine Vorgänger an der Macht?

   Wie die Dinge derzeit stehen wird es nach den nächsten Wahlen eine Mitte-Rechts-Regierung unter Salvini geben. Dabei fällt den Rechtsauslegern der Lega ironischerweise die Rolle der Mitte zu, die die scharf Rechten der Brüder Italiens (Fratelli d‘Italia), der Neuen Kraft (Forza Nuova) und die Faschisten von Casapound zügeln muss.

   Es gibt Leute, die das Phänomen Salvini als ein grosses Faszinosum für die Italiener begreifen. Da ist einer, der die Ausländer rauswirft (was er garnicht tut), der den bettelnden Süden in die Tonne tritt (was er auch nicht tut), der für die Arbeiter eintritt (was die Sozialisten nicht taten), die Bürokratie bekämpft (was der Mafia Türen öffnet) und die Steuern radikal senken will (was ihm Brüssel und die Kassenlage untersagen).

. Eine zeitgemässe Reinkarnation des Altmeisters Berlusconi gewissermassen, so denken Manche. Diese Beobachter erwarten ein Jahrzehnt Salvinis mit der Lega im Zentrum als Nachfolger der bürgerlichen Parteien und den Mussolini-Apologeten, die von den Mantelfalten Salvinis geschützt ihre nationalistische Agenda umsetzen werden.

   Mussolinis Weizen, er hat Jahrzehnte der Vernachlässigung überstanden. Und er ist immer noch da, kraftvoll und unübersehbar.

Benedikt Brenner

   Letzte Maitage in Rom. Es ist kühl und feucht in der ewigen Stadt, die Heizung läuft. Wo bleibt der Sommer, fragen die Römer, die ohnehin schon genervt sind von einer chaotischen Regierung und einer unfähigen Stadtverwaltung, deren Symbol, das Unkraut, überall spriesst und die Gehwege zuwächst. Die chinesische Kassiererin meiner mittlerweile chinesisch gewordenen Lieblings-Espressobar seufzt: “Immer Regen in Rom. Seit dem 22. Dezember regnet es ununterbrochen…”

   Die Bar ist ein Mikrokosmos von Rom und deutet zugleich an, wie Europas Zukunft aussehen dürfte. Vom alten Personal ist nur der Chef-Barista geblieben: ein Römer, der durch seine Vertrauen einflössende Person den Kunden die Tradition garantiert und nebenher die jungen Chinesen anlernt, die sich bemühen, gleichzeitig italienisch und den Job des Barista zu erlernen. Der Putzmann, der die Tische abräumt ist ein Bangladeschi oder Pakistani, die Küchenhilfe ist Rumänin. Den Chinesen gelang es zwar, die Araber und die Bulgaren von den Tischen im Freien zu vertreiben, die dort Tag für Tag ihre Geschäfte abwickelten: an ihrer Stelle machen sich nun die alten Frauen des Quartiers breit, die ihre Schwätzchen abhalten ohne viel zu konsumieren.

   Immer mehr Bars werden von Chinesen übernommen. Dabei wird man zwar nicht reich, aber das Geschäft ist sicher und krisenfest. “Wenn man die Steuererklärungen der meisten römischen Barbesitzer ansieht, denkt man dass sie unter den Tiberbrücken schlafen, so arm sind sie”, spotten Kenner. Apropos Wirtschaft: von Krise ist in Italien derzeit wenig zu spüren. Der Konsum läuft wie gewohnt; Baustellen sind zahlreicher und hinderlicher denn je, Luxus ist gefragt und wird sichtbar demonstriert. Eine aus den spanischen Vierteln in Neapel stammende Räuberbande hat sich auf Rolex-Uhren spezialisiert und schlug kürzlich vor meinen Augen in einer Gasse des Testaccio-Viertels zu. Der Raub hinterliess eine schreiende, aber sonst heile Dame: in anderen Fällen soll der Arm gelitten haben. Im Gegensatz zur vital anmutenden Privatwirtschaft tritt der Staat auf sie Bremse. Wichtige Strassenbau-Projekte mussten auf Eis gelegt werden, weil die Regierung 1,8 Milliarden vom Strassenbau abgezweigt hat, um ihre fragwürdige Grundeinkommens-Politik vor allem in Süditalien zu finanzieren. Aus Neapel allein kam knapp die Hälfte aller Bewerber. In einigen Provinzen Norditaliens gab es fast keine Interessenten.

   Die Europa-Wahl und die gleichzeitigen Kommunalwahlen haben nun Italien zum dritten Mal binnen weniger Jahre total umgekrempelt. Erst war es der lautstarke Florentiner Matteo Renzi, der versprach, Italiens Politik tiefgreifend zu reinigen und das alte System abzuwracken. Die Italiener jubelten und wählten ihn. Doch nach kurzer Zeit begannen immer mehr Leute – vor allem aus seiner eigenen Partei – an seinem Stuhl zu sägen. Als dann auch noch sein eigener Vater in unsaubere Geschichten verstrickt war, war Renzi am Ende und seine demokratische Partei zerfiel.. Die Italiener suchten also nach einem anderen Abwracker und fanden ihn in Luigi di Maio, der die Fundamental=Opposition der Fünf Sterne des ex-Komikers Beppe Grillo zu einem triumphalen Sieg über die alten Parteien führte. Doch das Glück weilte nur ein Jahr: das italienische Leiden ergriff schnell auch die Grillini: Inkompetenz, Prinzipienreiterei, Klüngelei und Schlamperei desillusionierten die Wählerschaft so rasend schnell, dass bei den jüngsten Wahlen den Fünf Sternen die Hälfte ihrer Wähler abhanden kam.

   Stattdessen stürmte der dritte Abwracker in Folge an die Macht: Matteo Salvini von der krypto-faschistischen Lega verdoppelte binnen eines Jahres seine Wählerzahl. Man mag die Verzweiflung der Italiener ermessen, die sie bewogen hat, die Macht nun in die Hände einer Clique zu legen, die kein Problem mit der Erinnerung an das Italien vor 1945 hat.

   Nun hat Salvini grosse Pläne: er will nicht nur Italien umkrempeln, sondern auch die EU. Man darf warten, wie lange es dauern wird, bis die Italiener auch der Lega und Salvinis überdrüssig werden. Noch glaubt man ihm, dass er das Flüchtlingsproblem mit Hau-Ruck-Methoden gelöst hat. Noch haben seine Wähler nicht verstanden, dass er zwar die Rettungsschiffe verbannt hat, nicht aber die Schnellboote, die über Nacht von Tunesien und Algerien kommend in Marsala, Mazara del Vallo und Marettimo einlaufen und ihre gut zahlenden Passagiere ausladen. Auch Holzbooten und gelegentlich sogar Schlauchbooten gelingt es, italienische Häfen anzulaufen. Doch das eigentliche Problem Salvinis ist der totale Misserfolg, was sein Versprechen anlangt, alle illegalen Einwanderer zurück in ihre Heimatländer zu spedieren. In dem Jahr Salvinis als Innenminister wurden noch weniger Illegale repatriiert als in den Jahren zuvor.

   Wird die Fremdenfeindlichkeit der Italiener eine dauerhafte Basis für Salvini bleiben? Analysen der Ergebnisse der Europawahl und die Kommunalwahlen haben ergeben, dass Italien zweigeteilt ist. Die Grosstädte wie Mailand, Rom, Florenz und Bari haben sozialdemokratisch gewählt; die Kleinstädte und das flache Land wählten überwiegend Salvini und die Lega. Mit anderen Worten: die Grosstädte, in denen die Ausländer-Dichte hoch ist, lehnten Salvinis Rabaukenpolitik ab. In den kleineren Orten und auf dem Land gibt zwar relativ wenige Ausländer, aber eine ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit. Sie nährt sich von Meldungen wie dieser: Eine Gruppe von vier jungen Nordafrikanern machte in Ostia bei Rom ein 15-jähriges Mädchen an. Ihr Vater, ein Mitglied des Sinti-Clans Spada, der Ostia tyrannisiert, schritt ein. Ergebnis: drei Jünglinge liegen mit Stichwunden im Krankenhaus, der Vierte ist im Krankenhaus verblutet.

   Sollte der Xenophobie-Glanz, den Salvini jetzt geniesst, eines Tages verblassen, wen werden die Italiener dann wählen? Dann bleiben nur noch die echten Faschisten von Gruppen wie Casapound übrig. Oder würden die Italiener dann wieder zurück zu einer erstarkten Mitte finden, die mit Brüssel und den Finanzmärkten in Frieden leben kann? Im Augenblick scheint Italien jedenfalls Griechenland nachzueifern auf dem Pfad zu Schuldenschnitt und Zwangsverwaltung. Man könnte sich auch trösten, dass Salvinis Allmachtsfantasien nur beschleunigen werden, was ohnehin unvermeidlich ist.

Benedikt Brenner

 

Cresce in Italia l’incidenza dei patrimoni e delle eredità, insieme alla loro concentrazione. Per favorire un passaggio generazionale più giusto andrebbe introdotta un’imposta progressiva sui “vantaggi ricevuti”, accompagnata da un’eredità universale.

 

Più ricchezza e più eredità e sempre più concentrate

 

    Gli italiani sono tra i cittadini più ricchi al mondo: il valore pro capite del nostro patrimonio netto immobiliare e finanziario è pari a circa 143 mila euro. Tuttavia, dalla fine degli anni Ottanta, chi ha meno di 50 anni ha visto la propria ricchezza media diminuire o stagnare. Le nuove generazioni appaiono particolarmente danneggiate, nonostante i rischi connessi alla crescente precarietà del mercato del lavoro. Dal 1995 al 2016, però, la quota di ricchezza netta personale detenuta dall’1 per cento più ricco della popolazione adulta è cresciuta dal 18 al 25 per cento circa. Nello stesso periodo è anche aumentato l’ammontare medio dei lasciti ereditari, da circa 200 a 300mila euro, e quello delle donazioni tra vivi, passato da 100 a 150 mila euro circa).

    Benché non certamente l’unica, la ricchezza è una risorsa cruciale per l’uguaglianza di opportunità. Se si crede in tale valore, occorre dunque modificare la situazione attuale. Le vie sono numerose. Accanto a misure di modifica delle regole di distribuzione del valore aggiunto, serve un intervento redistributivo che, con la tassazione, riduca la concentrazione nella parte alta e, con i trasferimenti, assicuri a tutti i giovani una base di ricchezza.

    Queste e altre indicazioni sono contenute in un nuovo rapporto del Forum disuguaglianze diversità (ForumDD). Il Forum mira a declinare per l’Italia alcune proposte di politica economica avanzate da Anthony Atkinson nel suo ultimo libro, Inequality what can be done?

 

Figura 1 – Ricchezza netta media personale per gruppi di età


Fonte: Elaborazioni sui dati dell’Indagine sui bilanci delle famiglie, Banca d’Italia.

 

    Con ricchezza netta si intende la somma di tutti i valori reali e finanziari al netto di tutto l’indebitamento. La variabile della ricchezza netta delle famiglie è allocata agli individui ed è aggiustata stimando le riserve accumulate nei conti pensione e nei fondi assicurativi privati. La ricchezza netta esclude i beni durevoli (per esempio, automobili ed elettrodomestici)

 

Lo stato attuale della tassazione sui patrimoni ereditati o donati

 

    La tassazione dei patrimoni ereditati o ricevuti in dono (non guadagnati) gode in Italia di un regime di forte favore fiscale rispetto a quanto avviene in molti altri paesi. Nonostante l’aumento di ricchezza, le imposte di successione e di donazione, dalla metà degli anni Novanta. sono scese dallo 0,3 allo 0,1 per cento del gettito. Il trasferimento di patrimonio ai figli è oggi soggetto a un’aliquota del 4 per cento solo oltre la soglia di 1 milione di euro, mentre un’eredità di qualsiasi entità ricevuta da uno zio è tassata per intero all’8 per cento. In Francia, ogni figlio ha diritto a un’esenzione di soli 100 mila euro e le aliquote sono progressive fino a una massima del 45 per cento. L’aliquota massima media dei paesi Ocse è del 15 per cento.

    Non sorprende, dunque, che anche il Fondo monetario internazionale proponga una modifica dell’imposta di successione e di donazione, che la renda più progressiva e riduca le esenzioni fiscali, allargando la base imponibile.

 

Figura 2 – In Italia diminuiscono gli introiti delle imposte di successione a fronte dell’aumento di rilevanza della ricchezza privata nell’economia

Fonte: World Inequality Data (Wid): rapporto fra ricchezza netta privata e reddito nazionale; Oecd Tax revenue statistics: Introiti delle imposte sulle successioni, eredità e donazioni in rapporto agli introiti fiscali totali. Sono escluse dal computo le imposte catastali, ipotecarie e di registro dovute in caso di eredità di proprietà immobiliari

 

Figura 3 – Percentuale massima del valore tassato (sulla quota ereditata o sull’intero lascito)

Fonte: Elaborazione su dati pubblicati su TaxFoundation. Nel grafico sono stati inclusi solo i paesi con tassazione positiva

 

Una nuova imposta sui vantaggi ricevuti…

 

    L’imposta sui vantaggi ricevuti, che si applica alla somma dei trasferimenti recepiti nel corso della vita, prevede una soglia di esenzione di 500 mila euro, tre scaglioni e aliquote marginali che vanno dal 5 al 50 per cento, per i trasferimenti cumulati superiori ai 5 milioni di euro. Elimina sia il regime di favore per i familiari diretti sia buona parte delle esenzioni fiscali. I dati catastali andrebbero, ovviamente, aggiornati.

    Un’imposta di questo tipo realizzerebbe due principi di buon senso: rendere più equo il regime di tassazione, permettendo a persone che ereditano lo stesso valore patrimoniale di essere soggetti a uguale tassazione, e facendo pagare di più chi eredita di più nel corso della vita.

 

Figura 4 – Un aumento di progressività con la nuova imposta sui vantaggi ricevuti

 

    Le stime preliminari fatte nel rapporto suggeriscono una forte riduzione del numero di persone soggette alla nuova imposta: dagli attuali 110 mila a circa 30 mila.

    L’obiettivo principale non è dunque “tassare per tassare”, ma ridurre il regime di sostanziale favore sulle risorse ereditate o ricevute in dono, che hanno pochissime giustificazioni di merito e contribuiscono a divaricare le opportunità.

 

…e una misura di eredità universale per i 18enni

 

    Le risorse aggiuntive generate dall’imposta sui vantaggi ricevuti, stimate nell’ordine di 1,4-5,2 miliardi di euro (il valore massimo è raggiungibile solo con una riforma del catasto), potrebbero concorrere a istituire un’eredità universale, a favore dei giovani che compiono 18 anni. La proposta, contenuta nell’ultimo libro di Atkinson, è una misura non ancora attuata nel panorama dei paesi Ocse, ma idee simili sono state avanzate anche in UK e Usa. In Italia, una proposta simile è stata presentata di recente da un gruppo di parlamentari del Pd ed era già stata lanciata su questo portale nel 2006 da Valentino Larcinese.

    Se si considera una base di 15 mila euro (circa il 10 per cento della ricchezza media) per i circa 590 mila giovani oggi in quella fascia di età, la misura costerebbe circa 8,8 miliardi. Servirebbero, dunque, risorse aggiuntive a quelle provenienti dalla nuova imposta. Potrebbero concorrere una riorganizzazione delle risorse oggi destinate ai giovani (dal bonus cultura, per 240 milioni nel 2019, a una serie di piccoli fondi per le politiche giovanili) e delle agevolazioni fiscali di cui beneficiano oggi le classi di contribuenti più ricchi (il ministero dell’Economia e Finanze certifica un “mancato gettito” da agevolazioni per 55 miliardi annuali). Inoltre, sempre il Mef certifica un ammontare di circa 100 miliardi di imposte evase ogni anno, alle quali si aggiunge il mancato gettito delle imposte sul reddito da lavoro autonomo e sui redditi da capitale relativi ai patrimoni nascosti nei paradisi fiscali (valutato da uno studio della Banca d’Italia in circa 8 miliardi annui). La scelta di destinare i proventi a un’eredità universale per tutte le giovani e i giovani potrebbe aiutare a costruire la pressione necessaria per ottenere risultati, anche marginali, su uno o più di questi fronti.

    Il trasferimento è universale: va a tutti i giovani e le giovani, senza prova dei mezzi. È anche incondizionato rispetto alle decisioni di spesa. Questi tratti vanno contro il senso oggi comune. Li difendiamo alla luce delle inevitabili arbitrarietà della selettività e della necessità di rafforzare il senso di comune appartenenza e di accrescere la libertà “sostanziale” dei giovani nel momento del passaggio all’età adulta (libertà di seguire le proprie aspirazioni; di viaggiare; studiare dove si vuole; di tentare, anche in gruppo, un progetto imprenditoriale; di risparmiare). D’altro canto, non condizionalità non implica disinteresse alle scelte. Proponiamo, infatti, di accompagnare alla misura interventi formativi di educazione finanziaria e di guida alle scelte, anche nelle scuole.

 

LaVoce.info:  Elena Granaglia e Salvatore Morelli

   Als wir 1946/47 nach der grossen Zerstörung erwachten und versuchten, uns in dem neuen Leben einzurichten ohne zu verhungern, da gab es keine Option Deutschland.

   Deutschland war ein Begriff der grauenhaften Vergangenheit, mit dem wir Jungen nichts mehr zu tun haben wollten. Wir lebten in einem Vier-Zonen-Land. Wurden von Besatzungsmächten regiert und fanden daran auch viel Gutes. Unsere Helden hiessen Lucius D. Clay, Herbert Hoover und John McCloy. Clay und McCloy regierten uns mit freundlicher Strenge und Hoover schenkte uns die höchst willkommene Schülerspeisung. Wir hörten AFN unf RIAS für die neueste Musik und lasen mit der Neuen Zeitung das vielleicht beste Blatt, das je in Deutschland erschienen war, redigiert von Hans Wallenberg und später Jack Fleischer. Wir lasen genüsslich Das Wespennest, eine kritische Zeitschrift von Werner Finck. Wir erfuhren durch Eugen Kogons Der SS-Staat noch mehr über die grauenhaften Verbrechen, die im Namen Deutschlands begangen wurden.

   Wie gesagt, für uns Jungen gab es keine Option Deutschland. Wir hätten jede neue Staatsform akzeptiert; wir träumten von der Idee, ein amerikanisches Übersee-Protektorat zu werden, eine Kolonie gewissermassen. Wir hätten auch nichts gegen Adenauers Vision von einem erweiterten Elsass-Lothringen bis zur Elbe gehabt: wir liebten die französische Armee-Messe in Tübingen, wo man mit den Soldaten Tisch-Fussball spielte, Gitanes rauchte und vin ordinaire trank.

   Man diskutierte auch Leopold Figls Idee von einem neutralen Alpenstaat, einer Fusion Österreichs mit der Schweiz und Bayern, der schon daran gescheitert wäre, dass die stolzen Eidgenossen nichts mit den österreichischen und bayerischen Schlawinern zu tun haben wollten.

   Wenn man von der Ostzone und ihrem Sonderschicksal absieht, war die Besatzungszeit in unserer Sicht sehr positiv. Ein Land ohne deutsche Regierung, das war gut. Als die Besatzer sich später zurückzogen, stimmte uns das traurig. Der AFN, der uns Englisch gelehrt hatte, wurde eingestellt. Die Neue Zeitung ebenfalls, für die die 1945 mit Willy Brandt und Ted Kaghan als Zensoren gegründete Süddeutsche Zeitung nur ein schwacher Ersatz war. Dann verschwand auch der RIAS, geleitet von der wunderbaren Marianne Regensburger.

   Was tun mit dem besetzten Land? Die drei Westmächte einigten sich, aus ihren Zonen ein neues Rumpfdeutschland entstehen zu lassen. Und es entstand: mit Grundgesetz, Parlamenten, Landesregierungen und einer Bundesregierung. Mit Christenparteien, Sozialdemokraten, Kommunisten und Revisionisten verschiedener Couleur. Mit einem Auswärtigen Dienst und bald sogar mit einer Bundeswehr und Wehrpflicht.

   Das alles geschaffen von den Vätern, Müttern, Grossvätern und Grossmüttern, die das Glück hatten, den Krieg überlebt zu haben. Uns Junge fragte niemand. Die Alten bescherten uns ein Deutschland, das uns fremd war. Wir schauten uns das Personal dieses Deutschlands an und fanden zu unserer Überraschung sogar ein paar Leute, die man sympathisch finden konnte. Einen Theodor Heuss, einen Carlo Schmid. Einen Werner Finck. Einen Rudolf Augstein. Einen Willy Brandt.

   Aber im Grunde sind wir in diesem Deutschland nie heimisch geworden. Es fuhr schneller ab als wir zuschauen konnten. Mit Adenauer in die Montanunion und in die NATO, mit Erhard in die Vermögen zerstörende Währungsreform und das aus Ruinen entstehende Wirtschaftswunder. Deutschlands Dynamik überfuhr uns, vereinnahmte uns. Wir wurden zu Bürgern eines Staates gemacht, den wir eigentlich nicht gewollt hatten und den wir eigentlich nicht mochten. Wir trösteten uns mit der Annahme, dieser Staat sei wohl alternativlos und ein typisches kleineres Übel. Aber eigentlich rumorte es in uns.

   Dann kam irgendwann die 68er-Bewegung und mit ihr die RAF. Beides erschien uns blöde und oberflächlich. Vor allem erschien es uns deutsch in einer Weise, die wir abzulehnen und zu verachten gelernt hatten. Wir mochten weder die Grossväter, die diesen Staat geschaffen hatten, noch die Enkel, die durch ihre Proteste diesen Staat nur bestätigten und stärkten, um ihn wenige Jahre später genussvoll von den Alten zu übernehmen, umzugestalten und an der Macht zu verspiessern.

   Der Aufstieg der grün-roten 68er-Spiesser machte diesen Staat nicht sympathischer. Einmal der Macht nahe, verbündeten sie sich mit dem erfolgreichen konservativen Establishment, seinen Wirtschaftslobbies und Wirtschaftsmedien, die gewohnt sind, diesen Staat durch die christlichen, liberalen und sozialdemokratischen Parteien zu regieren.

   Dann kam die Erfindung des Smartphones und mit ihr die grosse Flüchtlings- und Migrationswelle von 2015. Eine ungeschickte Spontanhandlung der Kanzlerin lenkte die Welle in ein im Prinzip immer noch xenophobes Land und beförderte den Aufstieg einer Rechtsaussen-Partei, die sich dieser Xenophobie politisch annahm und damit bis heute grossen Erfolg hat.

   Nun kommt ein junger Mensch, Rezo genannt, der die C-Parteien und die Sozialdemokratie pauschal für alles verantwortlich macht, was seit Staatsgründung falsch gelaufen ist und weiterhin falsch läuft. Er wirft den Parteien Heuchelei und Lügen vor. Wer diesen Staat seit 1949 beobachtet hat, kann ihm nur zustimmen und sich freuen, dass es ihm mithilfe eines sozialen Mediums gelungen ist, die Fakten einem Millionen-Publikum vor Augen zu führen. Ob sein Blickwinkel links oder rechts, grün oder rot ist, ist ebenso nebensächlich wie die Frage, ob alle seine Fakten stimmen. Der beleidigte Aufschrei des Establishments und seiner Wirtschaftsmedien zeigt, dass Rezo ins Schwarze getroffen hat.

   Das Problem lautet nun: wenn die C-Parteien und die Sozialdemokratie diskreditiert und nicht mehr wählbar sind – wie es eine Gruppe von Influencern postuliert – was dann? An wählbaren Parteien bleiben den Deutschen nur noch zwei: die Grünen und die Liberalen. Der linke und der rechte Rand disqualifizieren sich stets aufs neue. Wo also ist eine wählbare neue Mitte ohne eine Auswahl von Skeletten im Schrank? Eine Kraft, die Deutschland inter pares führen könnte, beispielsweise mit Grosszügigkeit gegenüber den Nachbarn statt mit dem Egoismus, der Reparationsansprüche von Griechenland, Italien, Polen, von Zwangsarbeitern oder Restitutionsklagen ohne lange zu prüfen mit juristischen Finessen abschmettert. Eine neue Mitte, in der sich auch ein Rezo wohlfühlen könnte, und nicht nur er.

   Natürlich kann man so weitermachen wie bisher. Die inkriminierten Parteien könnten hoffen, dass die Kritik von Rezo und Seinesgleichen in der nächsten Generation vergessen sein wird. Dass aus Mangel an einer neuen Mitte die Leute weiterhin die alten Parteien wählen werden. Selbst wenn es eine neue Partei gäbe,  würde sie von den Politikern wohl schleunigst in eine traditionelle Partei mit all ihren Fehlern verwandelt werden, wie es die Fünf Sterne in Italien gerade demonstrieren.

   Man könnte aber auch einen Neuanfang wagen. Deutschland braucht einen Macron, eine EnMarche. Der Bundesanzeiger sollte vielleicht eine Stellenausschreibung veröffentlichen: Kanzlerin oder Kanzler gesucht. Standort Berlin. Erwünscht Mehrsprachigkeit und Welterfahrung, Mindestalter: 27 Jahre, usw.usw.

Heinrich von Loesch

  

   Die Ballenstedter Strasse in Wilmersdorf war vor dem II. Weltkrieg eine der elegantesten Villenstrassen Berlins. Klassizistische Gebäude bestimmten ihren Charakter. Eine asphaltierte Strasse, rechts und links flankiert von Sandstreifen mit Bäumen, gepflasterten Gehwegen und Vorgärten.

    Dann kamen die Bombardements. Das erste Opfer wurde 1941 durch einen Volltreffer die Villa des amerikanischen Gesandten William R. Smyser, der trotz allem  ein Freund Deutschlands blieb. Nach dem Schreck der Bombennacht blieb uns Kindern das Vergnügen, scharfkantige Bombensplitter zu sammeln.

    Das wichtigste Gebäude der Strasse war ein klassizistisches Reihenhaus englischer Art mit einem Säulenportal in der Mitte, das der Petersburger Stadtarchitekt Alexander Klein in den zwanziger Jahren für die geflohenen russischen Adligen gebaut hatte, die sich keine eigenen Palais mehr leisten konnten.

    Die Familie Nottmeyer bewohnte das noble Mittelhaus, eine Frau v. Kropf wohnte hinter einer der beiden schmückenden Trauerweiden, ein Eckhaus gehörte einem Direktor Haus von der Colonia-Versicherung. Ein Stück weiter auf dieser Seite wohnte Erna Baronin Rothkirch samt Sohn Dickie in einer palladianischen Villa.

   Im Zuge der Juden-Verfolgungen sah man gegen Ende der dreissiger Jahre öfters Menschen mit dem gelben Stern die Strasse entlanggehen. Die Familie Kaczmarek, der eine Villa nahe der Kreuzung Brandenburgische Strasse gehörte, war plötzlich über Nacht verschwunden.

    Dann kamen die Bombardements, und ein Haus nach den anderen wurde getroffen. Das grosse Reihenhaus brannte bis auf ein Teil-Haus – die Nummer 14a – aus und wurde nach dem Krieg mehr schlecht als recht wieder aufgebaut.

     Heute mutet die Strasse ziemlich trostlos an. Die Ecke Brandenburger Strasse ziert ein Gebrauchtwagenhandel. In Büchern zum Gedenken an das alte Wilmersdorf wird die Ballenstedter Strasse kaum erwähnt. Doch ein altes Foto existiert noch, nämlich dieses:

 Ballenstedter Strasse

photo & Text: Heinrich v. Loesch