Der blinde Fleck
Wenn deutsche Reporter über Ereignisse und Probleme in Entwicklungsländern berichten, zeigen sie oft eine gewisse Scheu, den Ursachen nachzuspüren.
Deutlich zeigte sich das bei zwei Reportagen der Süddeutschen Zeitung. "Vor uns die Sintflut" (22/4/15) hiess ein Bericht des Korrespondenten Arne Perras, der einfühlsam die Probleme Bangladeschs schilderte: die Armut, den steigenden Meeresspiegel dank Klimawandel, das Eindringen des Meeres in das Delta, den sinkenden Süsswasserzufluss wegen Bauten am Oberlauf von Ganges und Brahmaputra, das versalzende Land und die verzweifelte Gegenwehr der Menschen, ihren Kampf um den Lebensunterhalt. Ein anrührender, guter Bericht.
Was fehlte, war eine Erwähnung dessen, was die Bengalen selbst zu ihren Problemen beitragen. Ein Hinweis, dass sich die Bevölkerung Bangladeschs trotz der seit Jahrzehnten bekannten Problematik höchster Dichte auf wenig urbarem Land weiter vermehrt, fehlt. Bei derzeit 170 Millionen Einwohnern ist weiteres Bevölkerungswachstum unvermeidlich, eine dramatischere Gefahr für Wohlergehen und Überleben der Menschenmassen als der steigende Meeresspiegel. Trotz der seit Jahrzehnten dramatisch gesunkenen Fruchtbarkeit nimmt die Bevölkerung wegen der extrem jungen Altersstruktur weiterhin Jahr um Jahr um über 2 Millionen zu.
Kein Wunder, dass Armut die Menschen -- vor allem die Frauen -- in die Maquiladoras treibt, die berüchtigten Textilfabriken, die dem Land einen kleinen Wirtschaftsboom gebracht haben. Auswanderung kann ein wichtiges Ventil für den Überdruck sein. Aber wer will schon junge Bangladeschis? Im vorwiegend hinduistischen Indien, das Bangladesch umklammert, sind die muslimischen Bangladeschi wenig willkommen. Auf den traditionellen Arbeitsmärkten im Nahen Osten und in Südostasien sind die 2-3 Millionen Gastarbeiter aus Bangladesch inzwischen starker Konkurrenz aus anderen Ländern ausgesetzt. In Europa ist neben Grossbritannien neuerdings Italien ein Gastland: in Rom bilden junge Männer aus Bangladesch inzwischen eine der stärksten Minderheiten. Laufend kommen weitere Jünglinge dazu, viele mit Booten übers Mittelmeer. Haben sie eine Chance, als Asylbewerber anerkannt zu werden? Wohl kaum. Ein wirkliches Ventil für den Bevölkerungsdruck kann Europa nicht bieten.
Zwei Tage später erschien in der Süddeutschen ein Bericht des Korrespondenten Tobias Zick "Vergeltung" (24/4/15) über die Situation der Somalis in Kenia und das Flüchtlingslager Dadaab, der Heimstätte von 350.000 Somalis. Zwei von drei Somalia-Flüchtlingen in Kenia leben in diesem angeblich grössten Flüchtlingslager der Welt. Als Reaktion auf das Blutbad somalischer Attentäter mit 144 toten Schülern in Garissa Anfang April fordert die Regierung nun den Hochkommissar der UN für Flüchtlinge auf, Dadaab binnen weniger Monate zu räumen. Täte er das nicht, dann würde die Regierung selbst die Räumung durchführen und die Flüchtlinge nach Somalia zurückschicken. Wie der Korrespondent berichtet. löste die Ankündigung der Regierung heftige Proteste der Hilfsorganisationen aus. Angeblich verstosse die Massnahme gegen internationales Recht, das Kenia akzeptiert habe. Der Korrespondent meint, Dadaab ähnele inzwischen mehr einer Grosstadt als dem Zeltlager, das es -- wie ein Foto zeigt -- ursprünglich war. Deswegen sei es garnicht möglich, Dahaab zu räumen.
Warum stösst die kenianische Regierung so brutale Drohungen aus? Um das zu verstehen, muss man ein wenig zurückblättern in der Geschichte. Die somalische Minderheit, die im wüstenartigen Nordosten Kenias lebt, war im Rest des Landes nie beliebt. Das somalische Gebiet war nie sicher. Räuberbanden, shifta genannt, zwangen Reisende und die lokale Bevölkerung zu Vorsichtsmassnahmen. In den Augen der meisten Kenianer waren Somalis shifta und umgekehrt. Der Staat glänzte hauptsächlich durch Abwesenheit.
Kenia hat viele Stämme, und einige haben noch recht elementare Sitten. Damit konnte die einstige britische Kolonie gut leben. Das änderte sich, als 1991 nach dem Tod des Diktators Siad Barre Somalia im Chaos versank und tausende von Flüchtlingen über die Grenze kamen. In Dadaab fanden Jene Zuflucht, die keine Verwandten und Freunde in anderen Orten Kenias hatten, die ihnen Unterschlupf bieten konnten. Die Zahl der ungeliebten Somalis -- einheimische und fremde -- wuchs rasch an. Dazu gesellte ich etwas anderes: die Demografie. Die Somalis sind zusammen mit den Einwohnern von Niger die fruchtbarste Bevölkerung der Welt mit durchschnittlich sieben Kindern je Frau. Die Kenianer, auch recht fortpflanzungsfreudig, liegen bei etwas über 4 Kindern je Frau. Das bedeutet, dass der somalische Bevölkerungsteil durch Einwanderung und hohe Fruchtbarkeit viel schneller wächst als die restliche Bevölkerung Kenias. Ein Umstand, der in Nairobi wenig Freude auslöst.
Aber warum jetzt plötzlich Dadaab auflösen? Man mag vermuten, dass das Blutbad von Garissa nur den Anlass lieferte, eine lange erwünschte Massnahme gegen alle Widerstände umzusetzen Das, was mit Flüchtlingslagern geschieht, wenn man sie nicht rechtzeitig auflöst, illustriert die Geschichte der Palästinenser. Die Sonderorganisation der UN für die Palästina-Flüchtlinge UNRWA schreibt: "When the Agency began operations in 1950, it was responding to the needs of about 750,000 Palestine refugees. Today, some 5 million Palestine refugees are eligible for UNRWA services." Seit 1950 haben Millionen Palästinenser, die Tüchtigsten und Glücklichsten, die Lager verlassen, haben sich selbständig gemacht, sind in die Golfstaaten, nach Amerika und Europa ausgewandert. Trotz Jahrzehnten dieser weltweiten Diaspora gibt es immer noch die Lager. Sie sind immer noch voll von Menschen, die sich als Flüchtlinge bezeichnen, die der Hilfe bedürfen, über sechzig Jahre nach der Entstehung Israels. Eine schreckliche Tatsache, und ein Ergebnis der hohen Fruchtbarkeit der Palästinenser.
Niemand sollte sich wundern, wenn die Regierung in Nairobi ein solches Szenario für Dadaab fürchtet. Die Fruchtbarkeit der Somalis ist höher, als die der Palästinenser je war. Ob man Dadaab auflösen darf und kann, ist eine andere Frage, ebenso wie die Frage, ob der wilde Nordosten eigentlich zu Kenia oder zu Somalia gehören sollte.
Ihsan al-Tawil