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Warum Piketty Recht hat und trotzdem irrt

   Der erste “Weltreport über Ungleichheit prophezeit soziale und wirtschaftliche Katastrophen, falls kein Mittel gegen die wachsende Ungleichheit gefunden wird. Thomas Piketty, der Autor des Bestsellers Das Kapital im 21. Jahrhundert und seine Co-Autoren haben massives Zahlenmaterial vorgelegt, das die zunehmenden Exzesse des Reichtums angesichts arm bleibender oder verarmender Massen dokumentiert. Im Extremfall, im Nahen Osten nämlich, beziehen die zehn Prozent Bestverdienenden zusammen angeblich 61 Prozent des Gesamteinkommens.

   So sehr man den Autoren zustimmen möchte, dass eine wachsende Einkommenskluft zwischen Oben und Unten bedrohlich anmutet, so unklar erscheinen die Gründe, warum die Entwicklung im heutigen Kapitalismus quasi naturgesetzlich abläuft, falls nicht kraftvoll gegengesteuert wird.

   Hier sei ein unorthodoxer Versuch einer Erklärung gewagt, die in ein Aktionskonzept mündet, das dem der Piketty-Adepten zuwider läuft. Und ziemlich viel mit Trumpismus zu tun hat.

 

Ein Tag wie jeder andere.

   Zwei Nachrichten liefen heute ein:

Ad 1: In Brescia, einer Industriestadt Norditaliens, wurde ein 14-Jähriger von der Polizei mit drei Kilo Kokain im Schulranzen geschnappt. Zuhause besass er weitere 12 Kilo des Rauschgifts. Im Rucksack befand sich auch eine Präzisionswaage, die er für den Verkauf der Ware im Bahnhofsviertel von Brescia brauchte.

Ad 2: Ayrton Little, ein 16-jähriger Afro-Amerikaner in Louisiana, wurde von der Elite-Universität Harvard zum Studium zugelassen. Riesige Freude bei Freunden und Familie.

   Zwei unterschiedliche Versuche junger Menschen, die tradierte Altersstruktur des Menschenlebens zu durchbrechen und Erfolg zu erzwingen lange bevor er Altersgenossen vergönnt ist. Frühes Unternehmertum, frühe Begabung kombiniert mit Fleiss – man denkt nicht von ungefähr an Wunderkinder-Beispiele unserer Tage: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ond Österrreichs Premier Sebastian Kurz.

 

Aber was hat das mit Pikettys Theorem zu tun?

   Ziemlich viel, nach meiner Meinung.

   Warum sind die oberen zehn Prozent weltweit so erfolgreich, während die neunzig Prozent auch fleissig strampeln und dennoch abgehängt werden? Sind die zehn Prozent begabter, fleissiger, von Haus aus begünstigter? Vielleicht. Doch das reicht nicht aus um zu erklären, warum ihr Anteil am Volkseinkommen wächst. Begabung, Fleiss, Heimvorteil könnten begründen, warum es in jeder Generation und jedem Land wieder zehn Prozent gibt, die mehr Erfolg haben als der Rest. Das sichert ihnen zwar einen überproportionalen Anteil am gesamten Einkommen – aber nicht jenen wachsenden Anteil, den Piketty behauptet. Dazu muss noch etwas anderes kommen.

   Aber was?

   Stellen wir uns als hilfreiche Denkfigur den Standardablauf eines Menschenlebens in der heutigen Wirtschaft als einen Hindernisparcours vor. Kaum hat man lesen, schreiben und denken gelernt findet man sich mit vielen dummen Menschen in einer Schule eingesperrt, die einem ungeheuer viel Zeit stiehlt, Kreativität hasst und nur zwei Fluchtwege lässt: nach unten (Typ Brescia) oder nach oben (Typ Harvard). Hat man Schule und vielleicht Wehrdienst überstanden, so steht der Weg ins Leben endlich offen.

   Unverdrossene wählen eine weitere Ausbildung und Spezialisierung, die erneut viel Zeit stiehlt und oft statt nützlicher Kenntnisse nur einen Titel liefert. Andere suchen direkt ihren Weg empor in die Region der zehn Prozent und sehen sich mit tausend Hindernissen konfrontiert: Berufe, die man nur ausüben darf, wenn man einen Titel, eine Zulassung hat. Kredit, den man nur erhält, wenn man die Zulassung hat und Sicherheiten bieten kann.

   Hat man trotz aller Hindernisse endlich seine einträgliche Nische gefunden und kratzt man schon am unteren Rand der Zehn-Prozent-Sphäre, so droht einem der allgemeine Jugendwahn, nämlich wegen fortgeschrittenen Alters aussortiert zu werden. Und noch ein paar Jahre später droht der endgültige Jobverlust, Verrentung genannt. Im oft besten Männer- oder Frauenalter wird man als Wirtschaftsabfall gestempelt, und die Steuer- oder Rentenbehörde verbietet einem womöglich weitere Arbeit oder bestraft Arbeitssucht oder Gewinnsucht mit einem scharf steigenden Einkommensteuer-Hebesatz.

 

Wider das Standardleben

   Das Standardleben der 90 Prozent verläuft also in einem ausgeklügelten System zur Verhinderung von sozialem und wirtschaftlichem Aufstieg. Schulzwang, Studium, Berufsausbildung, Qualifikation, Zulassung, Prüfungen, Zeugnisse, Diplome, Rentenbescheide, Friedhofsgebühren sind Instrumente eines repressiven Sozialwesens, welches das Individuum an seiner Entfaltung hindert, damit es nicht stört und der Gemeinschaft keinen Schaden zufügen kann.

   Analphabeten, Rechtsüberholer, Autodidakten, Traumtänzer sind nicht vorgesehen und nicht erwünscht.

   Um zu den zehn Prozent aufzusteigen braucht man entweder das Glück, durch Herkunft vor den Folterinstrumenten der modernen, kapitalistischen Gesellschaft und dem damit verbundenen Zeit- und Kraftverlust bewahrt zu werden, oder ungewöhnliche Stärke, um sich dagegen zu behaupten.

   So weit, so gut. Warum aber fällt den zehn Prozent ein wachsender Anteil am Kuchen zu? Ganz einfach, weil beim Aufstieg in die Zehn-Prozent-Zone die Folterinstrumente der Gesellschaft graduell unwirksam, belanglos werden. Niemand prüft, ob der Chef einer erfolgreichen Handwerksfirma lesen und schreiben kann. Er hat Leute, die das für ihn tun. Ein erfolgreicher Bankier braucht kein Studium der Betriebswirtschaft und des Bankwesens nachzuweisen, nicht einmal ein Abitur. Eine Spekulantin oder Investorin frägt man nicht, ob sie das Rentenalter überschritten hat. Das wäre zu unhöflich.

 

Keine Hindernisse für die Erfolgreichen

   Je höher der Zehn-Prozenter steigt, desto leichter kippen die Hindernisse weg, die die Gesellschaft auf den Parcours gestellt hat, desto geringer wird der Zeit- und Kraftverlust, den die Gesellschaft mit ihren Regeln verursacht. Dadurch ergibt sich ein Turbo-Effekt, der es dem Zehn-Prozenter gleichsam spielerisch ermöglicht, sein oder ihr Einkommen und Vermögen im Vergleich zu den 90 Prozent zu maximieren: arbeitend bis zur Bahre oder Demenz.

   Noch etwas unterscheidet die Zehnprozenter von den 90 Prozent: Bei den wirtschaftlich Erfolgreichsten darf man in einer auf Wettbewerb basierenden Wirtschaft vermuten, dass Maximierung des Einkommens und Vermögens ihre Haupt-Triebfeder ist.  Nicht notwendigerweise ist das auch bei den 90 Prozent der Fall. Man vergleicht gerne die deutsche Kanzlerin mit dem türkischen Präsidenten Erdogan -- zwei Politiker, die ähnlich lange an der Regierung sind. Kanzlerin Merkel wird eines Tages wohlhabend, aber nicht reich in den Ruhestand gehen; Präsident Erdogan und seine Familie haben ein riesiges Vermögen angesammelt, angeblich Milliarden; der Aufstieg zu den 10 Prozent ist ihnen fraglos gelungen.

   Das Beispiel Merkel zeigt, dass zu den Hindernissen, die die Gesellschaft errichtet hat, auch Lockungen gehören, die den aufstrebenden jungen Menschen vom Streben nach Aufstieg in die 10-Prozent-Schicht abhalten. Alle möglichen demotivierenden Zielsetzungen offeriert die Gesellschaft: Dienst am Volke, an der Partei oder der Arbeiterklasse, Berühmtheit, Menschenliebe oder Tierliebe, Ressourcenschutz, wissenschaftlicher oder sportlicher Erfolg: eine Myriade Zielsetzungen, die mit der Einkommens- und Vermögensmaximierung konkurrieren.

 

Oder Glück im Jenseits?   

Wichtig, wenn nicht gar dominant unter den konkurrierenden Lockungen, ist Religion.  Je weniger vereinbar die Religion das Streben nach Erfolg im Diesseits mit dem Streben nach Glück im Jenseits gestaltet, desto stärker werden die 90 Prozent von der Wohlstandsmaximierung abgelenkt.  Der Bettelmönch, die Klosterfrau und der islamische Selbstmord-Märtyrer stellen Extreme dar.

   Logischerweise fällt es den 10 Prozent in stark religiös geprägten Gesellschaften besonders leicht, sich von den 90 Prozent abzusetzen.  Als Ausnahme von der Regel gilt jene Variante des Calvinismus-Protestantismus, die angeblich wirtschaftlichen Erfolg im Diesseits als Anwartschaft für Glück im Jenseits ansieht.  Es wird gerne behauptet,  calvinistisches Denken habe inzwischen das ganze Christentum durchdrungen und dadurch das enorme wirtschaftliche Wachstum der vergangenen Jahrzehnte ermöglicht.

   In frühen Zeiten galt Einkommensmaximierung an sich als anrüchig.  Europas Elite beispielsweise strebte nach Waffenruhm, Heldentum, Grundbesitz, Untertanen, Kolonien, nach dichterischem oder künstlerischem Ruhm. Der nach 10-Prozent-Rang Strebende wurde gern als Koofmich verspottet, als Neureicher, als Angeber.

 

Mickrige performance

   Wenn die Gesellschaft dem jungen Menschen den mit Hindernissen und Lockungen gespickten Parcours vor die Füsse legt, darf sie sich nicht wundern, wenn die wirtschaftliche performance der neunzig Prozent mickrig bleibt.

   Die angelsächsischen Länder sehen die sich öffnende Schere zwischen den Einkommensanteilen der zehn und der neunzig Prozent traditionell locker, als quasi-naturgesetzliche Entwicklung und nicht sonderlich tadelnswert. Die Kontinentaleuropäer hingegen mögen diese Tendenz nicht und versuchen -- siehe Piketty & Co -- gegenzusteuern.

   Die klassische linke Reaktion verlangt, die von den repressiven Instrumenten der Gesellschaft erzeugte Problematik mit mehr Repression zu beantworten. Das Instrument der Wahl: stärkere Besteuerung hoher Einkommen und grosser Vermögen, kombiniert mit ausgleichender Sozialpolitik. Eine Bonanza für die Bürokratie.

   Die klassische rechte Reaktion im Sinne der US-Republikaner und ihres Präsidenten wäre es, die als repressiv erkannten Instrumente der Gesellschaft abzuschaffen oder abzumildern. Beispiel: home schooling statt Schulpflicht. Aufhebung jeder Art von Rentenalter. Befreiung von Versicherungspflicht und der Zwangsmitgliedschaft in Berufsverbänden. Abschaffung von Meistertiteln, Diplomen und anderen Voraussetzungen der Berufsausübung. Vor allem: Beseitigung der Einkommensteuer-Progression. Freie Fahrt dem Talentierten und Mutigen, wenn nötig auf Kosten der Gesellschaft.

   Jedes Land muss seinen Weg zwischen den Extremen suchen.

Heinrich von Loesch 

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