Niemand weiss mit Sicherheit, wer hinter dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 steckte. Präsident Recep Tayyip Erdogan behauptet, der im amerikanischen Exil lebende Prediger Fethullah Gülen sei der alleinige Urheber des versuchten Staatsstreichs. Gülen wiederum vermutet, Erdogan habe den Putsch inszeniert, um die ganze Macht an sich reissen zu können. Andere sehen traditionell laizisistische Teile des Offizierskorps, die sich als Hüter des Erbes Atatürks verstehen, als Träger des Putsches.

   Alle drei Varianten sind durchaus denkbar.

  • Dass Offiziere gegen eine islamistische Regierung putschen und dabei das Parlament bombardieren, ist in der Logik der türkischen Geschichte durchaus normal und braucht keine weitere Erklärung.
  • Dass die halbgeheime Organisation des Imams Gülen nicht nur den Staat insgesamt, sondern auch das Militär seit Jahrzehnten unterwandert hat, ist bekannt. Vor allem die kemalistischen Offiziere klagen, dass unter politischem Druck die Gülenci unter den Offizieren in den Erdogan-Jahren so systematisch gefördert wurden, dass sie tatsächlich einen Umsturz anstreben konnten.
  • Dass Präsident Erdogan einen solchen Putschversuch inszenieren könnte, ist keineswegs unglaubhaft. Erdogan strebte nach dem Bruch mit Gülen Ende 2013 energisch nach voller Kontrolle über das Militär: eine Meuterei würde ihm den Vorwand zu einer umfassenden Säuberung liefern. Damit die Sache glaubhaft aussieht, wäre die Bombardierung des Parlaments mitsamt ein paar hundert Toten sinnvoll. Dass man Erdogan zutrauen könnte, genug skrupellos zu sein, ist nach seinem rabiaten Vorgehen der letzten Wochen leider nicht von der Hand zu weisen.

   Es gibt also drei Tatverdächtige, aber keine smoking gun, die den Täter identifizieren könnte. Bislang fand man keine der üblichen Kabinettslisten, mit denen sich Putschisten gegenseitig die top jobs nach dem erfolgreichen Umsturz zuzusichern pflegen. Man weiss nicht einmal, wer Präsident und wer Premierminister geworden wäre. Es sei denn, der neue Präsident wäre der alte gewesen – dann bräuchte es keine Kabinettsliste.

   All drei Verdächtigen sind nicht von der feinen, demokratischen Sorte.

   Das Militär hat so oft und brutal geputscht, dass Erdogan die schrittweise Entmachtung des Offizierskorps in den letzten Jahren hoch angerechnet wird.

   Dass eine Demokratie nicht mit einer mächtigen und skrupellosen Geheimorganisation wie der Hizmet des Predigers Gülen existieren kann, ist plausibel. Sie zu zerschlagen, wäre in einem europäischen Land die Aufgabe des Verfassungsschutzes. Italien war in den 1970er Jahren von einer Freimaurerloge namens P2 unterwandert, die der Faschist Licio Gelli leitete. Nach Entdeckung einer brisanten Liste von fast tausend Mitgliedern wurde die Loge 1981 zerschlagen.

   In der Türkei braucht man dazu keinen Parlamentsausschuss: da macht das der inzwischen nahezu allmächtige Präsident mit Hilfe seiner AKP-Anhänger und wohl vielen Wendehälsen, die flugs von Gülenci zu Erdogan-Fans mutieren.

   Dass der einstige Reformer und als "moderat-modern" geltende Islamist Erdogan sich zum kompromisslosen Moslembruder und Machtmenschen entwickelt hat, ist eine Katastrophe für die Türkei und ihre stets wacklige Demokratie.

   Für die Theorie, dass die Gülenci den Putschversuch starteten, spricht der Umstand, dass Erdogan in den Tagen vor dem 15. Juli ein umfassendes Revirement im Militär plante, das die Machtpositionen der Gülen-Offiziere bedrohte und sie nach einer gängigen Meinung zum übereilten und schlecht organisierten Putsch quasi zwang.

   Die Annahme, dass die von Erdogan seit Jahren mit Schauprozessen verfolgten und entmachteten Kemalisten danach lechzten, sich an den Frommen zu rächen und sie in den Kerker zu werfen, wo sie nach Meinung der Säkularen hingehören, braucht keines weiteren Beweises.

   Dass Präsident Erdogan das Murren im Korps der kemalistischen und Gülenistischen Offiziere verborgen blieb, wäre nur zu erklären, wenn die Chefs seiner eigenen Geheimdienste mit den potentiellen Putschisten sympathisierten und Majestät absichtlich im Dunkeln liessen. Tatsächlich scheinen zahlreiche wichtige AKP-Funktionäre Wasser auf beiden Schultern getragen zu haben. Schlechtes Gewissen könnte nach dem Ende des Putsches viele Erdoganci zu überlauten Loyalitätsschwüren getrieben zu haben.

   Vor dem 15. Juli war Erdogans Position schwach. Die Gülenisten hatten ihre Presse benutzt, um Erdogan und seiner Familie einen üblen Korruptionsverdacht anzuhängen. Statt zu stürzen, wie erwartet wurde, behauptete sich Erdogan, verhaftete die Staatsanwälte und kickstartete einen neuen Kurdenkrieg, um die Wahlen zu gewinnen, mit Erfolg und auch dank der kampfbereiten Hilfe der PKK, die sich in Gefahr sah, im Frieden in Bedeutungslosigkeit zu versinken.

   So sicher sich Erdogan fühlen konnte, so lange er und Gülen das gleiche Ziel verfolgten – nämlich die schrittweise Islamisierung des Staates unter Erdogans Herrschaft– so bedrohlich wurde es für ihn, als sich Gülen gegen ihn stellte. Der Bruderkampf zweier Sekten musste die verbliebenen Kemalisten ermutigen, zuzuschlagen und beide Sekten zu zertreten. Dazu kam das steigende Missbehagen auch innerhalb der AK-Partei mit dem immer autokratischer werdenden Stil Erdogans. Einflussreiche Paladine wie ex-Präsident und Aussenminister Abdullah Gül und ex-Premier Ahmet Davutoglu hatte er unnötig gedemütigt: sie warten in den Kulissen auf Rehabilitierung und Rückkehr an die Macht. Vor allem Gül wäre ein idealer Nachfolger gewesen.

   Seit Jahren hing die Gefahr eines Militärputsches wie ein Damoklesschwert über der Türkei. Überraschend war für in- und ausländische Beobachter nur, dass er sich so lange nicht ereignete. Als sich die erste Nachricht von der Sperrung der Bosporusbrücken verbreitete, reagierten Inland und Ausland gleichermassen mit einem “Aha, das ist es!

   Dann aber geschah das Neue, Unerwartete: der Putsch schlug fehl. Das war ein Novum in der türkischen Geschichte. Bislang waren Staatsstreiche immer mit Präzision durchgeführt worden, zeigte das Militär der Nation, wer der Herr ist.

   Nun brach sich die Wut des Volkes auf die brutale Eigenmächtigkeit des Militärs Bahn, jubelten Millionen Islamisten, dass der Erbauer ihres erhofften Gottesreichs, Erdogan, gerettet wurde.  So hängten die Sympathisanten des Putschversuchs ihr Mäntelchen schleunigst in den neuen Wind. Als die Regierung dem Volke und der Welt Fethullah Gülen und seine Geheimgesellschaft als alleinigen Bösewicht anbot, akzeptierten das die Türken mit Begeisterung, denn alle hatten plötzlich einen Grund, den Lehrmeister im fernen Pennsylvania zu hassen, um an der angekündigten Säuberung als Säuberer, nicht als Gesäuberter teilzunehmen.

   Schwierig war die Lage der Säkularen und Kemalisten: Aus ihren Kreisen stammten die Protagonisten aller früheren Putsche, sie standen daher unter dem Generalverdacht übermässiger Nähe zu den Putschisten (wer immer das war, denn bisher weiss man ja wenig Genaues).

   Beide traditionellen Oppositionsparteien zeigten sich daher in einer gemeinsamen Kundgebung mit der Regierung demonstrativ solidarisch. Dass jetzt das Übel der Gülen-Strukturen ausgerottet wird, kann den Kemalisten nur recht sein: dann gibt es eine Organisation von Islamisten weniger. Allerdings dämmert ihnen inzwischen, dass der hundertjährige Traum von der laizistischen Türkei Atatürks ausgeträumt ist: dass an die Stelle zweier Sekten eine einzige getreten ist, die den ganzen Staat gekapert hat.

   Während sich die Nationalisten der autoritär gesonnenen MHP-Partei noch bei Erdogan lieb Kind machen und ihm helfen, ein massgeschneidertes Präsidialsystem einzuführen, greift die wichtigste Opposition, die sozialdemokratische CHP, den vor allem aus Europa geworfenen Ball auf und beschuldigt Erdogan und die AKP  “ihren eigenen Putsch” durchzuführen, indem sie unschuldige “Autoren, Journalisten und Offiziere einsperrt”. Man darf sich fragen, wie lange sich CHP-Chef Kemal Kiliçdaroglu solche Töne noch erlauben kann, ohne selbst gesäubert zu werden. Bei der Kurdenpartei HDP ist die Säuberung bereits in vollem Gange.

   Blickt man jetzt zurück auf den Putschversuch, so wallt dichter Nebel über dem Geschehen. Die von der Regierung zur Fahndung ausgeschriebenen angeblichen Haupttäter muten eher lächerlich an; nicht einmal ihre Zugehörigkeit zur Gülen-Sekte ist sicher. Zehntausende sind verhaftet worden, weil sich auf ihrem Smartphone eine Application namens Bylock fand, die angeblich der Gülen-Sekte zur geheimen Kommunikation dient.

   Peinlicherweise verriet der Entwickler und Eigentümer der App, ein Türke mit Namen David Keynes, der Zeitung Hürriyet, die App sei seit Ende 2015 – also lange vor dem Putsch – “inaktiv” . Diese Behauptung droht, den ganzen Rachefeldzug der Regierung gegen die Gülenci einstürzen zu lassen. Was nicht sein darf, kann nicht sein: prompt hat ein Staatsanwalt in Istanbul Ermittlungen gegen den Eigner der App und seinen Interviewer eingeleitet.

   Überall Nebel. Die Unfähigkeit der Regierung, mit einer überzeugenden Riege von Putschisten aufzuwarten, die sich für einen Schauprozess unter internationaler Beobachtung qualifiziert, stärkt natürlich die Gerüchte, der Putschversuch sei ein inside job gewesen. Einer, der viel zu wissen scheint, ist Selahattin Demirtaş, der Co-Vorsitzende der Kurdenpartei HDP. Er, der keiner islamistischen Tendenzen verdächtig ist und auch mit den alten Kemalisten nichts zu tun hat, erklärte am 17. Oktober, etwa 90 Abgeordnete, grossteils von der Regierungspartei AKP hätten vorab von den Putschplänen gewusst.

Some 80 to 90 deputies had prior knowledge of the coup attempt. Most of them were from the AKP. They aren’t admitting this now fearing the eruption of a political crisis. I am calling on them to reveal who was aware of the coup plans and who would be appointed prime minister [if the coup had succeeded],” Demirtaş said at his party’s parliamentary group meeting.

   Erfahrene Beobachter wie Ahmet Şık und Yavuz Baydar (Süddeutsche Zeitung, 21-10-16) vertreten die Ansicht, der Putschversuch sei gemeinsam von Gülenisten und anderen AKP-Feinden im Militär unternommen worden. Die Regierung habe sofort mit beiden Gruppen verhandelt, sie auseinander dividiert und damit den Putsch zum Scheitern gebracht. Das klingt insofern glaubhaft, als die Gülenisten im Militär zu ihren starken Zeiten die nicht-klerikalen Offiziere übel kujoniert hatten. Hass und Misstrauen zwischen beiden Gruppen waren die Folge und erlaubten der Regierung, die Meuterer zu spalten, wie Şık und Baydar meinen.

   Diese Theorie kollidiert freilich mit der umfänglichen Mitwisserschaft, die Demirtaş der AKP attestiert. Das eifrige Bemühen der Regierung, die Gülen-Leute als einzige Urheber des Aufstands zu brandmarken, zeigt, dass es etwas zu verbergen gilt, das, wäre es bekannt, “eine politische Krise” – wie Demirtaş sagt – auslösen würde.

   Falls es in den Stunden des Putsches ein Loyalitätsproblem innerhalb der AKP gab, dann muss man damit rechnen, dass es auch eine über das bisherige Mass hinausgehende Säuberung innerhalb der AKP geben wird, sobald die anti-Gülen-Kampagne abgeschlossen ist und Erdogan sich stark genug fühlt, in den eigenen Reihen “aufzuräumen”. Dann wird man wahrscheinlich in Umrissen erfahren, was am 15. Juli 2016 wirklich geschehen ist.

 

Ihsan al-Tawil

 

Update

"Parliamentary Coup Investigation Commission member and main opposition Republican People’s Party (CHP) İstanbul deputy Aykut Erdoğdu said in an interview with the Birgün daily on Monday that the ruling AKP is trying to obscure the realities behind the coup attempt on July 15 since the commission is being prevented from doing its job by “hidden hands.”

Erdoğdu said there are scores of unanswered questions about the failed coup attempt that the AKP government and President Erdoğan still have not clarified.

“They are not clarifying that [July 15] night. MİT head Hakan Fidan’s failure to inform Erdoğan [about the coup attempt], Chief of General Staff Gen. Akar’s captivity and release, prime suspect Adil Öksüz’s release after detention and Erdoğan’s statement that he was informed [about the coup attempt] by his brother-in-law have not been clarified,” he said.

“The strongest and dirtiest hidden hand [to prevent the commission from continuing its investigation] is the ‘palace’ [Erdoğan’s] hand,” Erdoğdu said.

According to Erdoğdu, the AKP and Erdoğan fear the revelation of some realities about the failed coup attempt. Erdoğdu also said the same hidden hands were preventing the commission from hearing the putschist army general.

(Turkish Minute)

Update II

Leader of the main opposition Republican People’s Party (CHP) Kemal Kılıçdaroğlu has accused the Justice and Development Party (AKP) government of laying the groundwork for a July 15 military coup attempt, saying that the brother of a senior AKP official led the abortive coup.

(Turkish Minute)

 

Update III

"Der Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND) Bruno Kahl widerspricht der türkischen Regierung mit Blick auf den Putschversuch gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan im Sommer vergangenen Jahres. "Der Putsch war wohl nur ein willkommener Vorwand", sagte Kahl dem SPIEGEL über die Säuberungswelle in der Türkei."

 

 

 

Recently Iraq passed a law meant to see wrongly indicted political prisoners released. However, it looks like embezzlers, kidnappers, terrorists and those who killed foreign soldiers will also get out of jail.

   It took six years for Iraqi politicians to agree upon the content of the country’s new law on amnesty; the so-called General Amnesty Law was finally passed on August 25.  But now, a month later, it looks as though it may take another few years for the law to be enacted in reality; that’s despite the fact that it was supposed to be effective immediately after the vote. Legal experts agree there are some serious problems with the law – issues that could see hardened criminals and corrupt officials pardoned easily – and now Iraq’s Prime Minister Haider al-Abadi is demanding further revisions.

   Al-Abadi first submitted a draft of the law to Parliament in June 2016. It was a long-promised piece of legislation that had been demanded by Sunni Muslim politicians. It was seen as a way of releasing those Sunnis the politicians believed had been arrested for political reasons, under a terrorism law developed by the former government, headed by controversial former prime minister Nouri al-Maliki.

   The original law, submitted to Parliament by al-Abadi, had had eight Articles. In the wrangling that followed, another eight Articles were added. Two days after the law was eventually passed al-Abadi stated that he believed parliamentarians had introduced criminal elements to the new legislation.  

The new law means that some of the Iraqis who killed US soldiers will be pardoned. 

   For example, in the original draft of the legislation, Article 6 did not allow the release of kidnappers. In the amended draft, kidnappers can now apply for pardons if their crimes didn’t result in death or permanent disability for the victim.  

   “The first law excluded anyone convicted of kidnapping from seeking a pardon but the Parliament has changed this,” al-Abadi complained. “A few days ago security forces found kidnapped children during a raid. Under the amended amnesty law, those kidnappers could be released.”

   Which is why a few days ago, al-Abadi’s office added further amendments to the new law and sent them to Parliament for discussion. It now seems likely there will be further debate and that this law won’t become a reality anytime soon.

   In making the decision to pass the law, Parliament not only ignored the Prime Minister’s office but also objections from the country’s highest courts.

   Five days before the law was passed, the Speaker of the House, Sunni Muslim politician Salim al-Jibouri, apparently paid judges at the country’s highest courts a visit and they told him that they had plenty of objections to the amnesty law. A statement to that effect was leaked five days before the law was to be voted upon. However, MPs in Parliament chose to ignore the leaked statement and approved the law anyway.  

   Some of the problematic aspects on the law follow in more detail.

   For example, Article 3 of the amnesty law states that certain prisoners can be pardoned, but that their release requires the consent of the families of their victims, or of the victims themselves. Interestingly enough there have already been concerns expressed by the families or the victims themselves. They fear that if they do not consent to the release they would come under pressure, perhaps even have their lives threatened, because the prisoners could have contacts or, in the case of possible terrorists, whole networks outside the jail who could harass them.

   There are some contentious exemptions in Article 4. For example, Paragraph 2 basically says that any potential terrorist whose crimes did not result in the death or permanent disability of victims can be pardoned. Basically what that is saying, is that if an extremist with a car bomb did not manage to reach his goal, or perhaps the bomb didn’t explode but he was captured in the act, he could be released from prison – just because his act did not cause death or disability.

   Pararaph 10 of Article 5 says those accused of stealing state funds or engaging in administrative or financial corruption may be released if they pay back what they stole. That’s a tough ask at a time when some Iraqi politicians are crusading against political corruption. It’s even more difficult when one considers that some of those accused of corruption are senior officials, who will try and enlist allies to reduce the amounts they allegedly stole. Another aspect of this article says that anybody who falsified documents to get a job or gain financial privilege from the state can also be pardoned – but once again, the original draft of the law said no such thing.

   One of the most controversial parts of the law: Article 6 says that any prisoner convicted of terrorist or criminal offences, who has served one third of his sentence, may request to “buy” his way out of the rest of the sentence. The prisoner would need to pay IQD10,000 per day (around US$7.50), for every day of the rest of the sentence. Clearly this would not be too difficult for wealthy convicts.

   “We are afraid that it is going to look like thieves and terrorists are rewarding us with state funds,” MP Awatif Naima, who voted against the law, told NIQASH.

   The decision on whether to accept those buy outs of a prisoner’s sentence will be made by representatives from the judiciary as well as the Ministries of Justice and the Interior. There are fears that those representatives would be under pressure or could be bribed. Article 7 also says that special judicial committees can retrial certain convicts.

   “The most dangerous Article in the law is the one that says criminals can be re-trialled by a judicial committee that is free to make decisions all by itself,” argues MP Ammar Tomeh. “The judges’ lives will be threatened or they may come under political pressure.

   Possibly most controversial to some of Iraq’s allies is Article 10 of the new draft of the law: This says that those who were convicted of crimes against foreign forces in Iraq up until 2011 may be pardoned. That means members of unofficial militias who fought, and possibly killed, US soldiers, or soldiers from any other nation outside Iraq, will not be punished – as long as they didn’t fight other Iraqis.

   And finally there is the new law’s Article 14, which says that any other legal text that contradicts the new amnesty law is not to be applied. That is, it contravenes Iraq’s own Constitution, which says it must be considered the penultimate legal template in the land.

   “Some of the new law’s Articles are very dangerous,” agrees local legal expert, Tareq Harb, who helped draft the Iraqi Constitution and has acted as an adviser to the Prime Minister. “This law should have covered specific issues. But instead Parliament has decided to hold retrials for all those convicted of criminal offences, terrorist acts, rape, robbery and theft.

 

Mustafa Habib --NIQASH: briefings from inside and across Iraq

 

   Der Chef der grössten Oppositionspartei in der Türkei, Kemal Kılıçdaroğlu , hat Präsident Erdoğans Erzfeind Fethullah Gülen – der sich im Exil in den USA aufhält -- aufgefordert, in die Türkei zurückzukehren und sich dem Gericht zu dem Vorwurf zu stellen. er habe den Militärputsch des 15. Juli 2016 angezettelt. “Wenn er nicht kommt, so ist das der Beweis, dass er schuldig ist”, sagte Kılıçdaroğlu.

   Ist der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) ein Scherzbold?  Es ist wohlbekannt, dass die türkische Justiz derzeit von der Regierung nach Belieben zur Verfolgung Missliebiger eingesetzt wird. Auf den Ausgang eines Prozesses für Gülen könnte man todsichere (buchstäblich!) Wetten abschliessen.

   So bleibt nur die unerfreuliche Frage:  Ist Kılıçdaroğlu ein Schelm oder will er sich bei Präsident Erdogan als der Majestät unterthänigster Oppositionsführer beliebt machen?

Ihsan al-Tawil

 

 Co-chairperson of the pro-Kurdish Peoples’ Democratic Party (HDP) Selahattin Demirtaş has claimed dozens of deputies, mostly from the ranks of the Justice and Development Party (AKP) government, knew about a military coup attempt that was staged unsuccessfully on July 15.

   “Some 80 to 90 deputies had prior knowledge of the coup attempt. Most of them were from the AKP. They aren’t admitting this now fearing the eruption of a political crisis. I am calling on them to reveal who was aware of the coup plans and who would be appointed prime minister [if the coup had succeeded],” Demirtaş said at his party’s parliamentary group meeting on Tuesday.

Turkish Minute

Die grosse Flüchtlingskrise ist abgeflaut, so scheint es in Deutschland. Kanzlerin Merkels Beliebtheit erholt sich wieder. Doch der Schein trügt. Die Krise gewährt Deutschland nur eine Atempause, um bald zurückzukehren. Mit Macht.

   Die Balkanroute ist weitgehend dicht. Und wird immer dichter. Dafür boomt die zentrale Mittelmeerroute von Libyen (90 Prozent) und Ägypten (10 Prozent). Praktisch bedeutet das: es kommen fast nur noch Schwarzafrikaner (90 Prozent). Die Syrer, Iraker und Asiaten schaffen es nicht bis zu den libyschen Häfen. Sie wurden durch den Balkanblock wirksam ausgesperrt. Insofern ist es falsch, immer noch von Flüchtlingskrise zu sprechen: nur Eritreer, Südsudanesen und ein paar ethnisch verfolgte Äthiopier können als Flüchtlinge gelten. Die Mehrheit der Nigerianer, Gambier und Nigerier sind unverfolgte Migranten.

   Griechenland ist “vollgelaufen”. Nur mit grosser Mühe beherbergt Hellas die über 50.000 Flüchtlinge, die ohne Aussicht auf Weiterwanderung nach Schliessung der Balkanroute gestrandet sind. Obwohl sich herumgesprochen hat, dass Griechenland eine Sackgasse ist, kommen jetzt wieder mehr Bootsleute an, die es nicht glauben wollen.

   Das zentrale Migrantenportal nach Europa ist in diesem Jahr Italien, das nun im Begriff ist, ebenfalls vollzulaufen. Einerseits fischt seine Marine Abertausende aus dem Meer, laden die ausländischen und privaten Rettungsdienste ihre Bootsleute ebenfalls in Italien ab, andererseits weigern sich Frankreich, Schweiz und Österreich an der Grenze, den Italienern Migranten abzunehmen, schicken illegale Einwanderer zurück. Überrascht stellen die Afrikaner fest, dass an den norditalienischen Grenzen Endstation ist, dass sie sich auf ein Leben in Italien einrichten und italienisch lernen müssen. Das ist in Norditalien besonders schwer, wo die xenophobe Nordliga-Partei wütet und teilweise auch regiert. Im Norden gibt es Jobs – fast immer schwarze – im Süden ist man freundlicher, aber dafür gibt es weniger Jobs und weniger Unterstützung.

   Noch wurstelt sich Italien mit viel lokaler Intiative und menschlichem Einsatz durch. Die Regierung erschöpft sich in vergeblichen Appellen an Brüssel und Berlin. Warme Worte helfen nicht, wenn Italien nicht ein paar zig-tausend Migranten oder Flüchtlinge abgenommen werden. Lange kann dieses Spiel nicht mehr gehen, denn anders als Griechenland kann sich Italien wehren. Schon Anfang Dezember steht der Sturz der Regierung im Raum: was nach dem überzeugten Europäer Renzi kommt, kann recht ungemütlich für Berlin und Brüssel ausfallen. Aus vergeblichen Hilferufen könnten Ultimaten werden.

   Noch ist Italien verwirrt. Sind die Rettungsaktionen auf dem Meer richtig oder falsch? Ist die Rettung von Menschen in Seenot ein kategorischer Imperativ? Oder sind die Retter Gehilfen der Schmuggler, die es mit ihrem Taxi-Service Verbrechern nur allzu einfach machen? Bauen die Retter eine breite Strasse übers Meer, die von der Hölle ins Paradies führt und Hunderttausende weitere Migranten aus den Tiefen Afrikas anlockt?

   Wer weiss schon die richtigen Antworten auf diese Fragen?  Italien sucht sie und ist zerrissen. Da gibt es Demografen und Politiker wie Riccardo Magi, die sagen, dass Italien jährlich 157.000 Einwanderer brauche, um den Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter auszugleichen und die Sozialsysteme zu unterhalten. Verblüffenderweise erwartet man, dass in diesem Jahr zwischen 160.000 und 170.000 Bootsleute in Italien angelandet werden. Daher entsprechen sich Einwanderungsbedarf und Einwandererzahl fast genau – also alles in Butter?

   Leider nicht. Denn die Ankommenden entsprechen, wie ein  Bericht der Radikalen Partei ausführt, in keiner Weise dem Anforderungsprofil für Einwanderer. Sechzig Prozent der Asylsuchenden qualifizieren sich nicht für Asyl. Angeblich befinden sich in Italien Europas am wenigsten qualifizierten Immigranten. Von ihnen gelten 48 Prozent als der Armut ausgesetzt. Man rechnet damit, dass die nicht für Asyl Anerkannten im Lande bleiben, keine reguläre Arbeit finden können, zu Schwarzarbeit verdammt sind und die Sozialsysteme – beispielsweise das Gesundheitswesen – belasten. Der italienische Staat gibt pro Migrant und Jahr 12.000 Euro aus, während Grossbritannien sich laut Bericht mit weniger als 2.500 Euro begnügt.

   Das Dilemma der Immigranten lässt sich derzeit in Italien mit dem blossen Auge sehen: die Asiaten fügen sich ziemlich schnell in die Wirtschaft ein, sind fleissig und kreativ im Auffinden von Lebensunterhalt spendenden Lücken. Die Araber finden sich im Handel, in der Strassenkriminalität und in der saisonalen Strandwirtschaft, aber auch als Hilfsarbeiter. Die Schwarzafrikaner leisten schlecht bezahlte Erntearbeit unter üblen Bedingungen oder betteln vor Supermärkten, Cafes und Restaurants.

   Ausgerechnet die Afrikaner sind es, die jetzt mit Macht in Italien einströmen. Viele von ihnen können ausser der Kraft ihrer Arme wenig bieten, sind Analphabeten*), weisen keinerlei Ausbildung auf oder ihre Qualifikationen entsprechen einer Wirtschaftsstufe, die in Italien Jahrzehnte zurückliegt. Immerhin erlernen sie einfachstes Italienisch relativ leicht – die Sprache eignet sich offenbar für einen Schnelleinstieg. Sobald es jedoch um lesen, schreiben und Berufsterminologie – oft dialektgefärbt -- geht, brauchen Migranten Unterricht, den es kaum gibt.

   Schwarzarbeit mit Ausbeutung wirkt auf viele Immigranten nicht abschreckend, denn es gibt in ihren Heimatländern den Begriff der legalen Arbeit mit Lohnsteuer und Sozialversicherung garnicht oder nur für wenige Privilegierte. Oft sind es sozial engagierte Italiener, die in erster Linie gegen die Ausbeutung der Fremden protestieren oder den Protest organisieren.

   Makroökonomisch betrachtet, ist der gegenwärtige Zustrom aus Afrika eine ziemliche Katastrophe für Italien. Die Einwanderer schliessen keine demografische Lücke: die Zahl der qualifizierten Arbeitsfähigen nimmt weiter ab. Steigende Frauenbeschäftigung und Rentnerarbeit kompensieren zwar teilweise die Schrumpfung der Kohorten im arbeitsfähigen Alter, doch das reicht nicht. Durch den Rückgang der Zahl der Beschäftigten erhöht sich auch ohne Neuinvestitionen die Kapitalausstattung je Arbeitsplatz, steigen daher (theoretisch) die Arbeitsproduktivität und das Einkommen pro Kopf, während das Bruttoinlandsprodukt stagnieren oder schrumpfen kann. Tatasächlich stagniert das italienische BIP seit 2008 – die Faktorproduktivität leider auch. (Doch das ist ein anderes Thema)

   Auf lange Sicht betrachtet, ist die jetzige Einwanderung sicherlich ein Segen für die Wirtschaft. Doch bis die Einwanderer, vor allem die aus Afrika, einen Beitrag zur Wertschöpfung leisten, der ihre sozialen Kosten übersteigt, werden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, vergehen. Vielleicht wird erst die zweite oder dritte Generation es schaffen, sich aus der Abhängigkeit von staatlichen Leistungen zu befreien.

   Bis dahin muss das Land eine Durststrecke bewältigen und es stellt sich für Viele die Frage, ob Italien mit seiner schwer reformierbaren, von Korruption und organisierter Kriminalität gezeichneten Wirtschaft sich das überhaupt leisten kann. Bange Blicke richten sich auf Griechenland: wie geht Hellas mit den Problemen um, die 50.000 festsitzende Flüchtlinge schaffen?

   "Bislang.wurde die Einwanderung insgesamt gut verwaltet", sagt Piero Fassino, der Ex-Bürgermeister von Turin, "aber was die Zahlen anlangt, kommen wir an die Schwelle der Nicht-Verwaltbarkeit." Als Beispiel verweist Fassino auf den Umstand, dass Sozialwohnungen mittlerweile bevorzugt an Einwanderer vergeben werden, weil die mehr Kinder haben.

   Was auch immer Italien mit den Flüchtlingen und Armutsmigranten tun wird: die demografische Lücke bleibt bestehen. Nicht nur das: sie wächst, denn tausende junge Italiener emigrieren auf der Suche nach Arbeit im Ausland, die sie in der Heimat nicht finden können. “Lernt, lernt, lernt und flieht!” fordert der Lehrer Alex Corlazzoli seine Schüler auf. Schon im Kindesalter werden junge Italiener auf Auswanderung eingestimmt. Im Jahr 2015 haben laut einem Bericht der Stiftung “Migrantes” 107.000 Bürger Italien verlassen, die Hälfte davon junge Menschen. Und es sind nicht mehr wie einst vorwiegend die Armen aus dem tiefen Süden, die emigrieren. Jetzt sind es auch die Kinder der norditalienischen Bourgeoisie, die Top-Schüler und Akademiker, die das Land verlassen mit der Absicht, nicht zurückzukehren.

   Wie soll das Land hunderttausende Immigranten aufnehmen, wenn es seinem eigenen Nachwuchs nicht genug Arbeitsplätze bietet und ihm der brain drain daher tausende seiner Besten raubt?  Je mehr sich Italien dieser Dichotomie bewusst wird, desto ultimativer wird die Forderung werden, dass ihm die Nachbarn einen grossen Teil der Last abnehmen. Deutschland sollte begreifen, dass die nächste Einwanderungswelle sich in Ventimiglia, am Hauptbahnhof von Mailand, in Como, Verona und Chiasso staut. Einwanderungswelle? Nein, Afrika kann Hunderttausende an die Küste von Libyen schicken, Jahr um Jahr, auf Jahrzehnte hinaus. Auch Kanzlerinnen-Reisen nach Afrika werden das höchstens um eine Stelle hinter dem Komma ändern.

Benedikt Brenner

 

Die unbegleiteten Jugendlichen

 

   Immer mehr afrikanische Familien schicken Minderjährige -- meist zwischen 14 und 17 Jahren -- nach Italien. Sie stellen mittlerweile 15 Prozent aller Ankömmlinge dar.  Ihre Unterbringung ist insofern schwierig, als die Kapazitäten bereits ausgelastet sind durch andere Minderjährige, vor allem Albanier.

   Albanische Familien haben nämlich entdeckt, dass es sinnvoll ist, ihre Sprösslinge in eine Art Internat ohne Ferien in Italien zu stecken. So zieht der italienische Staat die jungen Skipetaren auf, bringt ihnen bessere Schulbildung und vor allem italienisch bei, wodurch sie nach dem Schulabschluss eine Aufenthaltserlaubnis und einen fliegenden Start ins Berufsleben erzielen. In manchen Gegenden massieren sich die Albanier: in der Emilia-Romagna sind 55 Prozent der Betten für unbegleitete ausländische Minderjährige mit Albaniern belegt. Sie kosten die Gemeinden zwischen 100 und 120 Euro pro Tag, wie La Repubblica am 29. September berichtete. Verzweifelt versuchen die Gemeinden, die finanzielle Belastung loszuwerden -- ohne viel Erfolg. Die Stadt Faenza schreibt jetzt an die Eltern in Albanien, dass die unbegleitete Verschickung ein Delikt darstellt und versucht, die Eltern auf Kostenersatz zu verklagen. 

   In Albanien mag das den Enthusiasmus für die Kinderverschickung etwas dämpfen.  In Afrika dürfte der Effekt -- falls man die Eltern identifizieren kann -- gleich Null sein.

 

 

*) In Italien waren 26% der hilfesuchenden Asylbewerber 2015 laut Caritas-Bericht Analphabeten.

 

--BB