Dies ist Ernesto (sein echter Name, kein Scherz), etwa 10 Jahre alt, aus einem städtischen Tierheim in Rom stammend. Nichts an ihm ist ungewöhnlich ausser dem Umstand, dass er zur Erprobung einer neuen App namens Interpret ausgewählt wurde, die nicht nur menschliche Sprachen beherrscht.
Chienois ist eine Hundesprache, die von dem Franzosen Michel Marchand entziffert wurde. Nicht eigentlich entziffert. sondern mit Hilfe von Kamera und Mikrofon eingefangen: Dr. Marchand beobachtete über lange Zeit die Geräusche, Bewegungen und Mimiken von Hunden in Relation zu ihren mutmasslichen Wünschen, Absichten und Gemütsstimmungen. Daraus entwickelte er einen Algorithmus der, auf jeden beliebigen Hund angewendet, ein grobes Verhaltens- und Stimmungsbild des Tieres verrät und auf das Smartphone sendet.
“Dadurch, dass der Algorithmus nach dem Vorbild von Google Translate und ähnlichen Apps einfache Zusammenhänge in Sprache ausdrücken kann”, erklärt Dr. Marchand, “erlaubt die neue Software Interpret das Verständnis von Chienois in beliebig vielen Sprachen: in Deutsch wie in Urdu und Mongolisch.”
Es erfordert natürlich erheblichen Aufwand, Ernesto eingehend zu beobachten. Am Anfang sind die Ergebnisse eher enttäuschend: Einfache Aussagen wie “Frauchen, ich bin hungrig” versteht man auch ohne Smartphone und App.
“Das ist am Anfang immer so”, sagt Marchand. “Deswegen habe ich in die verbesserte Version vonInterpretAI eingebaut, künstliche Intelligenz. Die erlaubt es der App zu lernen, alle Reaktionen des Hundes zu speichern und zu bewerten. Im Laufe von ein, zwei Jahren kennt die App den Hund so genau, dass sie seine Gedanken immer subtiler erfassen und ausdrücken kann.”
In der Tat überrascht uns Ernesto durch seine Ausdrucksfähigkeit und die Genauigkeit seiner Beobachtungen. Wir selbst sind aber in unserer Mitteilungsfähigkeit beschränkt: wir verstehen zwar sein Chienois trotz der von Google Translate gewohnten Missverständnisse, können aber nicht unser Deutsch in Chienois übersetzen. Daher bleibt der Dialog einseitig und mühsam.
Immerhin können wir uns Ernestos Lebensgeschichte zusammen reimen: er entstammt einer Dynastie von Hütehunden vermutlich in den Karpaten und wurde als Welpe von rumänischen Händlern auf einem Flohmarkt in Rom für geschätzte 20 Euro an eine Familie mit Kind verkauft. Irgendwann packte die Familie Koffer für eine Reise und setzte Ernesto an einer Landstrasse ausserhalb Roms aus. Dort lebte er einige Zeit freischaffend, bevor ihn ein Hundefänger im Lastwagen in das Hundeheim brachte, wo er geimpft, entwurmt und Ernesto genannt wurde. Da blieb er dann acht Jahre, bevor wir ihn adoptierten und nach Deutschland brachten.
Er findet Deutschland gut weil es kühler ist als Rom. Aber manchmal, wenn er italienisch sprechen hört, freut er sich und hat Heimweh nach dem Hundeheim und den 2000 anderen Hunden, die von der Gemeinde Rom betreut werden.
Isabella Gattara
Update
"Scientists have developed an algorithm to monitor the underwater chatter of dolphins with the help of machine learning."
Update II
A study has found “strong evidence” that dogs use gestures to communicate with humans. Researchers from the University of Salford carried out the study in an attempt to work out what dogs were saying – if anything – when they performed certain gestures and humans.They concluded that there were in fact 19 different gestures that dogs used to communicate with us.
Aufregung in Deutschland: eine rechtsradikale Partei im Bundestag. Die AfD eine neue Volkspartei? Sind so viele Deutsche über Nacht zu NS-Nostalgikern und Antisemiten geworden?
Mitnichten. Viele haben die Rechtsausleger nicht wegen, sondern trotz ihrer giftigen Sprüche gewählt. Manches erinnert an den ehemals kometenhaften Aufstieg der Piraten-Partei bis 2012, die sich danach zerlegte, abstürzte und im Nichts verschwand. Auch damals waren die Piraten nur ein Fanal der Protestierer: schnell gewählt, schnell vergessen.
2017 war wieder eine Protestwahl. Da alle bürgerlichen Parteien sich als HiWis in einer Merkel-Koalition anboten, blieben Protestwählern nur drei Möglichkeiten: AfD wählen, Linke wählen oder garnicht wählen. Es hatte sich herumgesprochen, dass eine nicht abgegebene Stimme ein Stimme für Merkel sei. Also eilte das seiner demokratischen Pflicht bewusste Volk der Protestierer in grosser Zahl zu den Urnen. Linke wählen? Brr! Also blieb nur die AfD als Möglichkeit, Protest auszusprechen.
Protest wogegen? Gegen nochmal vier Jahre Merkel. Gegen noch mehr unkontrollierte Einwanderung: Hunderttausende, von denen der Staat nicht weiss, wer sie sind, wo sie sind, was man mit ihnen machen soll.
Köln-Silvester, Anis Amri und viele andere traurige Fälle haben den Deutschen gezeigt, dass ihr Staat den Gefahren der Einwanderung hilflos, konfus und unfähig ausgesetzt ist – jener Einwanderung, der Angela Merkel eigenmächtig Tür und Tor geöffnet hat.
Noch mehr solche Einwanderung? Noch mehr staatliche Fehlleistungen? Nein danke, sagten die Protestierer. Die Krise ist ebenso wie eine Merkel- auch eine Staatskrise. Das Heer der mit Steuer-Euros gemästeten Beamten versteht die Probleme nicht; wendet die Vorschriften, falls vorhanden, falsch oder garnicht an. Angst vor dem Verdacht des Rassismus und der Diskriminierung lähmen Legislative und Exekutive: viele Bürger rächen sich, indem sie eine klar rassistische Randpartei ins Zentrum wählen. Sie tun das nicht, weil sie plötzlich Rassisten geworden wären. Sie tun es auch nicht aus Daffke, um Merkel eins auszuwischen. Sie tun es, um Schlimmeres zu verhindern: weitere Kölns, weitere Anis Amris.
Das ist ebenso legitim wie aussichtslos. Zwar wird die Existenz der AfD in den Parlamenten die bürgerlichen Parteien zwingen, einen Teil ihres Phlegmas abzustreifen und die Einwanderungskontrolle zweckgerechter zu gestalten mit dem Ziel, mehr Schlawiner aus dem Land zu befördern und weniger von ihnen hereinkommen zu lassen.
Die Proteste der diversen religiösen Zentralräte gegen den angeblichen Rassismus der AfD-Wähler sind nur teilweise berechtigt: die antisemitischen Sprüche einiger, möglicherweise kurzlebiger, AfD-Schranzen reflektieren keinen Gesinnungswandel des Elektorats. Die Islamophobie der AfD bedeutet keine Änderung in der traditionell guten Einstellung der Deutschen zu “ihren” Türken. Wenn es dabei in letzter Zeit kriselt, dann ist daran kein aufflammender Rassismus schuld, sondern ein autokratischer Politiker in Ankara, der Deutschland zu seinen Feinden erkoren hat, von der türkischen Gemeinde in Deutschland aber glühend verehrt wird.
Dennoch zeigt die Wahl, dass es – unabhängig von den Türken – Probleme im Verhältnis zwischen Deutschen und einwandernden Moslems gibt. Wie Wahlanalysen zeigen, hat nur ein sehr geringer Teil der Akademiker AfD gewählt. Die Leute mit der hohen Bildungsstufe sind sich bewusst, dass Einwanderung unausweichlich ist, dass Deutschland ein Multi-Kulti-Land wird, dass Leute unterschiedlichster Farbe und Religion deutsche Personalausweise haben werden. Ein klassisches Einwanderungsland eben.
Diese Erkenntnis der Gebildeten ist in den niedrigeren Bildungsstufen noch nicht angekommen. Hier versteht man Deutschland noch als deutsches Land alten Stils und wundert sich über die neuen Farben und Stile, die sich vor allem innerorts zeigen. Doch das eigentliche Problem der weniger Gebildeten ist die stille Drohung, die seit Köln und seinen Vorläufern und Nachfolgern von der sichtbaren Existenz der Männer mit den schwarzen Vollbärten und ihren Damen in unterschiedlichen Formen der Verkleidung ausgeht. Das Problem wird nicht geringer, wenn Einwanderer und Konvertiten ihre Ethnizität und Religiosität auch noch demontrativ zeigen, um sich von der Umwelt abzusetzen – klassisches Immigranten-Verhalten, wie es beispielsweise die Deutschen in "Neuyork" und "Pennsylvanien" generationenlang zeigten.
Dass feindliche Gefühle gegen Einwanderer und entsprechende AfD-Wahlerfolge vor allem in solchen Bundesländern auftreten, die nur wenige Einwanderer aufweisen, mag mit ihrer geografischen Lage zu tun haben. Vielleicht büssen Migranten aus Nahost und Afrika für die osteuropäischen Diebesbanden, die Ostdeutschland seit Jahren verunsichern. In Bayern wurde die AfD zweitstärkste Partei vor allem in Landkreisen, die der nahe an der österreichischen Grenze liegen, an der die Balkanroute endet.
Allen, die der AfD-Erfolg aufgescheucht hat, sei gesagt: die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass nach vier Jahren der Spuk vorbei sein wird. Die Deutschen bleiben Demokraten. Sie werden wieder bürgerlich wählen, sobald Merkel ausgestanden ist und der Staat soweit ertüchtigt wurde, dass er die Migration ohne Krise zu steuern fähig ist.
Heinrich von Loesch
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Der massive Einwanderungsschub von 2015 hat Europa aufgestört. Seither frägt sich die Öffentlichkeit, was wohl die Ursachen dieser Massenwanderung sind. Meist wird dabei gefragt, wie man die Migration besser kanalisieren und eindämmen kann, obwohl auch mitunter gefragt wird, wie man die Einwanderung erleichtern und verstärken könnte. Unter beiden Blickwinkeln ist es nützlich, mehr über die Beweggründe der Migranten zu wissen. Dabei wird gerne zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten unterschieden. Obwohl dieses Kriterium für die Asylgewährung entscheidend wichtig ist, kann nur selten klar unterschieden werden. Oft treffen beide Kriterien in Kombination zu.
Zwei Denkschulen stehen sich gegenüber: eine populär-politische und eine angeblich wissenschaftliche, die mit Hilfe von Statistiken und anekdotischem Material zu beweisen versucht, dass die populären Annahmen sämtlich falsch sind. Aber gehen wir schrittweise vor:
Demografie
Selten taucht in der populären Diskussion der mutmasslichen Migrationsmotive die Demografie auf. Als ich in den 1960er Jahren erstmals Äthiopien bereiste und noch den alten Kaiser erlebte, zählte das Land geschätzte 19 Millionen Einwohner. “Jedes Jahr wird irgendwo in Äthiopien gehungert”, sagten Landeskenner damals. Heute, gute 50 Jahre später, zählt Äthiopien rund 100 Millionen Einwohner, und noch immer wird irgendwo gehungert. Aber der Boden ist nicht mehr geworden. Terrassierung hat zwar geholfen, in Teilen des Hochlandes die Erosion aufzuhalten und den Boden zu verbessern, aber immer noch leidet die Vegetation unter der Gefrässigkeit von hundert Millionen Rindern und Ziegen. Mit der Zahl der Viehbesitzer und wandernden Hirten hat sich leider auch die Kopfzahl ihrer Herden vermehrt.
Wenn heute in Afrika und im Nahen Osten von Klimawandel, Versteppung und Wassermangel die Rede ist, muss man sich fragen: was ist Ursache, was Folge? Ist das, was man heute dem Klimawandel ankreidet, vielleicht nur ein Ergebnis atemberaubend schnellen Bevölkerungswachstums seit 1950 und seiner Folgen in Form von Entwaldung, Erosion und Übernutzung der Ressourcen?
Jugendüberschuss
Wie bekannt, hat sich in den rasch wachsenden Bevölkerungen ein starker Jugendüberschuss herausgebildet. In den patriarchalisch geformten Gesellschaften des Nahen Ostens und Afrikas bildet der Überhang an jungen Männern ein enormes Problem. Viele Faktoren speisen die Unzufriedenheit der Jünglinge, die sich in Gewalttätigkeit, Kriminalität und Krieg entlädt – und eben auch in Migration. Was Wirtschaft und Gesellschaft den Jünglingen nicht geben, nehmen sie sich mit Gewalt – zuhause oder in der Ferne. Auch die Elterngeneration leidet unter dem Jugendüberschuss. Familien mit vier oder mehr Söhnen entsenden gerne ein oder zwei junge Männer ins Ausland, ins angeblich reiche Libyen oder Algerien. oder weiter nach Europa. Viele Migranten, die in Libyen vergeblich Arbeit suchten, wählen statt schmählicher Rückkehr die riskante Überfahrt nach Europa.
Arbeitskräftebedarf
Fachautoren bezweifeln gerne die Wirksamkeit des Push-Faktors und stellen dem einen Pull-Faktor in Form des Arbeitskräftebedarfs der von demografischer Schrumpfung geplagten Wirtschaft Europas gegenüber. Das ist freundlich gedacht, doch nur marginal wirksam. Jedes Jahr im Frühling füllen sich die Flugzeuge der Royal Air Maroc mit jungen Marokkanern, die per Touristenvisum nach Italien fliegen, um während des Sommers als fliegende Händler, als Saisonarbeiter an den Stränden und als Taschendiebe in den Touristenstädten ein Auskommen zu finden. Von diesen und den aus Nachbarländern angereisten Saisonarbeitern in der Landwirtschaft Spaniens und Italien abgesehen muss man annehmen, dass vor allem die aus grösserer Entfernung ankommenden Migranten nur sehr vage Vorstellungen von dem haben, was sie bei Ankunft in Europa erwartet. Dennoch, die langen Wartezeiten bei Asylbewerbung und das politisch und gewerkschaftlich motivierte Arbeitsverbot für illegal Eingereiste wirken als Gegenteil eines vermuteten Pull-Faktors, ein Umstand, der sich langsam auch nach Afrika herumsprechen dürfte.
Behebt Einwanderung den Nachwuchsmangel?
Dass sich nur ein kleiner Teil der Einwanderer eignet, den Arbeitskräftemangel der europäischen Volkswirtschaften zu mildern, ist inzwischen allgemein bekannt. Akademiker und Intellektuelle integrieren sich schneller als Ungelernte und Analphabeten, die leider die Masse der Migranten stellen. Junge Eritreer, die nicht einmal ihre eigene Schrift Ge’ez kennen, analphabetische Türkinnen und Syrerinnen, haben geringe Chancen am Arbeitsmarkt. Während die Einwanderer aus Nahost und Afrika den Zielländern mehr Last als Segen bringen, bildet ihre grosse Kinderschar ein enormes Potenzial. Übertrieben könnte man sagen, dass die wirtschaftliche Funktion der ersten Generation hauptsächlich darin besteht, dem Zielland die zweite und dritte Generation als wertvolles Humankapital zu qualifizieren. Dass die erste Generation bei dieser Aufgabe volle Unterstützung erhält, liegt im eigenen Interesse der Zielländer. Man kann also annehmen, dass sich der volkswirtschaftliche Nutzen der Einwanderung erst mit einem time lag, einer Verzögerung von zwanzig bis dreissig Jahren, einstellen wird.
Braucht Europa überhaupt Einwanderer?
Neuere Untersuchungen lassen die populäre Annahme bezweifeln, eine schrumpfende Bevölkerung benötige dringend Einwanderung, um die Wirtschaft aufrecht zu erhalten. Nicht glaubhaft ist auch die populäre Ansicht, eine Volkswirtschaft brauche einen hohen Anteil junger Menschen, um kreativ und innovativ zu sein. Die durchschnittlich ältesten Volkswirtschaften der Welt zeigen sich vielmehr im internationalen Vergleich besonders kreativ.
Ein weiteres Argument gegen den Nutzen der Einwanderung ist die europäische Binnenwanderung. Die aus Nahost und Afrika Ankommenden entdecken, dass jene gering qualifizierten Arbeitsplätze, für die sie sich allenfalls eignen würden, bereits besetzt sind von europäischen Binnenwanderern, von Rumänen, Polen, Bulgaren. Türken. Albanern, Kosovaren usw. Natürlich liessen sich weitere solche Arbeitsplätze schaffen, doch Gewerkschaften und Gewohnheiten verhindern das. Beispielsweise gibt es in den USA an Supermarktkassen Einpacker, die für den Kunden die Waren verstauen und gegen ein Trinkgeld zum Auto tragen. Europäer wären verblüfft und möglicherweise verärgert, wenn ihnen dieser Service angeboten würde.
Amüsant ist die gegenwärtige Diskussion um die Roboterisierung der Wirtschaft. Eine Denkrichtung erachtet den fortschreitenden Robotereinsatz als notwendig, weil humaner Nachwuchs fehlt (Beispiel Japan, das trotz schrumpfender Bevölkerung traditionell Einwanderung verhindert und lieber auf Roboter setzt). Eine andere Denkschule befürchtet hingegen Massenarbeitslosigkeit, weil die unvermeidlich bevorstehende Roboterisierung Millionen aus ihren Arbeitsplätzen vertreiben werde. Dann würde Europa vom Einwanderungsparadies zum Auswanderungsgebiet mutieren, wie es – was die Altbevölkerung betrifft – in Krisenländern wie Griechenland, Italien, Portugal und Spanien bereits heute der Fall ist. Aber wohin mit den Roboter-Vertriebenen, wenn die Roboterisierung alle Industrieländer gleichzeitig erfasst? In Entwicklungsländer, wo sie sich noch als gesuchte Fachkräfte, allerdings zu Niedrigeinkommen, bewähren könnten?
Vielleicht kann man das Fazit ziehen, dass Europa zwar derzeit keine Einwanderung braucht, diese aber dennoch stattfindet und wahrscheinlich in ein, zwei Generationen der Wirtschaft positive Ergebnisse bringen kann: eine langfristige Humaninvestition gewissermassen.
Fluchtursachen bekämpfen?
In der Politik hält sich immer noch die Diskussion über die Idee von Milliarden-Hilfsmassnahmen für Auswanderungs-Länder zu dem Zweck, Arbeitsplätze vor Ort als Alternative zur Migration nach Europa zu schaffen. Das Konzept, das als “Marshall-Plan für Afrika” erdacht und popularisiert wurde, kollidierte schnell mit der Wirklichkeit und schrumpfte zu einem Vorgehen in zwei Richtungen. Zum einen erhalten afrikanische Staaten Material und Ausbildung zur besseren Überwachung ihrer Grenzen; zum anderen werden Regierungen dieser Länder belohnt, wenn sie die Migration behindern. Ein wenig humanes, aber offenbar erfolgreiches Konzept, mit dem es gelingt, Regierungen, die bislang die illegale Auswanderung förderten oder duldeten, vom Gegenteil zu überzeugen. Als Ergebnis wird freilich der Druck im Kochtopf steigen.
Die Empirie zeigt, dass der Zusammenhang zwischen Einkommensentwicklung in Auswanderungsländern und Migration nicht linear verläuft. Migranten verlassen vor allem nicht die ärmsten, sondern die halbwegs entwickelten Länder. Die Ärmsten der Armen sind an die Scholle gefesselt: sie können sich keine Wanderung leisten. Erst bei einem mittleren Einkommensniveau können Familien die Mittel aufbringen und leihen, die ein Migrant für die Reise mutmasslich brauchen wird. Das derzeitige Rekordniveau von Remittenten erfolgreicher Migranten in ihre Herkunftsländer beweist, dass die Rechnung aufgeht.
Sobald ein Land ein höheres als das mittlere Einkommenniveau erreicht, tritt eine Rückwanderung ein, wie sie die Türkei während des Booms der ersten Jahre der AKP-Regierung und Marokko in den Jahren vor den Rif-Unruhen verzeichneten.
Ein (utopischer) Marshall-Plan für Afrika könnte im Erfolgsfall die Migration sogar verstärken. Als Politikern diese Erkenntnis nahe gebracht wurde, beerdigten sie die Idee stillschweigend. Was nicht bedeutet, dass es keine Ansätze für Europa gibt, um der Bevölkerung in diesen Staaten zu einer menschenwürdigeren Existenz zu verhelfen. Im Nahen Osten und in Afrika sollte Europa sich für die Bekämpfung der Haupt-Fluchtursachen einsetzen: Krieg, religiöse und Stammeskonflikte, ethnische Säuberung, Kriminalität, Ausbeutung und patriarchalische Rückständigkeit.
Heinrich von Loesch
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Ein absurd anmutender Titel: kann man Nordkorea und die Türkei vergleichen?
Nordkorea ist ein Schurkenstaat, der die Welt mit atomarer Gewalt erpresst und sein eigenes Volk versklavt. Die Türkei ist eine ehemalige Demokratie, nun Despotie, die ausser ihrem eigenen Volk und ein paar Reisenden und Journalisten niemanden ernstlich bedroht. Wie soll man die beiden Länder vergleichen?
Ein Paria weniger, ein Paria mehr
Die Dimension, die einen Vergleich nahelegt, ist die zeitliche. Bei Nordkorea ist klar, was die Regierung will und dass sie es sofort will: Anerkennung als Atommacht, Nicht-Angriffs-Garantien, Ende aller Sanktionen und langfristig Wiedervereinigung beider Koreas unter der Herrschaft der Sippe Kim. Vom letzteren Punkt abgesehen sind alle Anliegen realistisch und erfüllbar. So wie Pakistan und Indien Atommächte wurden ohne dass sich die Welt gross aufgeregt hat, so würde die Anerkennung Nordkoreas allenfalls Japan und Südkorea ermuntern, ebenfalls nach Atomwaffen zu streben. Nur weil Nordkorea eine kommunistische Vergangenheit hat, Südkorea bedroht und die Kim-Sippe unappetitlich ist, wirkt die Bilanz nicht viel negativer als die Pakistans mit seinem Islamismus und seiner unguten Rolle in Afghanistan.
Mit anderen Worten: Nordkoreas Probleme sind akut und weitgehend lösbar, wenn der Westen bereit wäre, Gesicht zu verlieren und die Kröte Kim zu schlucken. Dass Kröten geschluckt werden können, beweist neuerdings das Beispiel von Bashar al-Assad. der wieder als Syriens Regierungschef anerkannt wird. Kim Jong-un ist nicht grausamer als Assad, nur weitaus mächtiger und möglicherweise göttlicher Abstammung.
Nordkorea steht an der Schwelle zur internationalen Anerkennung. Man stelle sich Kim (oder sein Double) in einer Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen vor, Kim bei einer Tagung der G20. Die Türkei verliert derzeit rapide an Anerkennung im Westen und isoliert sich. Während Nordkorea energisch die Paria-Rolle abstreift, schlüpft die Türkei täglich mehr in ein Paria-Kleid. Warum?
Land der Türken, die türkisch sprechen
Nach hundert Jahren einesvonKemal Atatürk und seinen Jüngern verordneten Laizismus gelang es den sunnitischen Frommen, die Macht zu übernehmen und den Kemalismus schrittweise zu beseitigen. Dieser Sieg gelang den Islamisten erst im zweiten Anlauf. Der erste Versuch unter Necmettin Erbakan war 1997 am Widerstand des Militärs gescheitert. Aus diesem Misserfolg lernten die Islamisten, vorsichtiger zu sein, sich liberal zu tarnen und den zweiten Anlauf sehr behutsam einzuleiten. Als das Ziel schon winkte, brach – wie in Revolutionen üblich – ein Richtungskampf aus: Erdoganci gegen Gülenci, ein bisschen wie einst Bolschewiki gegen Menschewiki. Der Hauptunterschied zwischen beiden Richtungen liegt in den Führungspersonen, nicht im Programm.
Wie es scheint, ist der Richtungskampf entschieden und Erdogan geht nun mit Hilfe einer Hälfte der Bevölkerung daran, die Türkei und ihr Umfeld nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Ein Staat, eine Religion, ein Volk. Wie im 17. Jahrhundert Europas gilt nun cuius regio, eius religio, der sunnitische Islam wird zur Staatsreligion der Türkei bestimmt; andere Religionen werden schikaniert und ihr Besitztum enteignet. Ethnopolitisch wird wie im Europa des 20. Jahrhunderts nationale Homogenität angestrebt: die Türkei soll das Land der Türken sein, die türkisch sprechen. Minderheiten wie Kurden, Armenier, Roma sind unerwünscht und werden diskriminiert oder unterdrückt.
Innenpolitisch ist die Türkei auf dem Weg zum Einparteien-Staat. Die Prokurdische Partei HDP ist nach der Verhaftung ihres Führungspersonals so gut wie tot; die kemalistische Partei CHP, bislang die wichtigste Opposition, wurde bereits von Erdogan des Terrorismus bezichtigt: ein Zeichen, dass ihre Enthauptung ebenfalls bevorsteht. Die kleine extrem nationalistische MHP- Partei hat sich gespalten; ihr Ableger unter Meral Aksener wird reichlich mit Vorschusslorbeeren bedacht.
Ob die Oppositionsparteien bis zur Kommunalwahl im März 2019 die ihnen vermutlich zugedachten Säuberungen überstehen werden, ist fraglich. Selbst wenn sie kraftvoll und gemeinsam in den Wahlkampf gehen sollten: die Wahlurnen im März und bei der alles entscheidenden Präsidentenwahl im November 2019 kontrolliert die AKP-Regierung. Sie hat bewiesen, dass sie dafür zu sorgen versteht, dass nichts schiefgeht. Sind die Wahlen erst gewonnen, dann kann Erdogans AKP endlich ohne Kritik oder Widerstand regieren und das Land noch mehr zum Gottesstaat formen.
Da die Innenpolitik wegen der bevorstehenden Wahlen gegenwärtig die Szene beherrscht, ist die Aussenpolitik zeitweise in den zweiten Rang getreten. Die anstehenden grossen Änderungen sind eher langfristiger Natur. Das Streben Erdogans, in möglichst vielen Länder die Moslem-Bruderschaft an die Macht zu bringen, hat bisher nicht viel Erfolg gebracht. In Ägypten endete die Machtergreifung der Brüder in einem Blutbad und einer Militärdiktatur. In Libyen verhinderten der ägyptisch-emiratische Vasall al-Haftar und die Bemühungen der Vereinten Nationen, eine laizistische Regierung zu etablieren, dass die von der Türkei und Qatar gepäppelten Islamisten von Tripolis die Macht im ganzen Land übernahmen.
In Syrien ist das türkische Streben nach einem Sieg der Bruderschaft-nahen Milizen total gescheitert. Sie wurden zwischen Regierungstruppen und Dschihadisten zerrieben. Um das Schlimmste zu verhindern, nämlich die Vereinigung aller kurdischen Kantone Syriens zu einem autonomen Staatswesen, musste die Türkei in Syrien einmarschieren; ein verlustreiches Unterfangen ohne glaubhafte exit strategy. Um überhaupt eine Rolle in Syrien zu behalten, agiert Ankara jetzt als Protektor der dschihadistischen, Qaeda-treuen al-Nusra-Miliz in der Provinz Idlib. Im Irak war die Türkei erfolgreicher: sie konnte sich in den Kampf um Mossul einschalten und Forderungen anmelden. Ausserdem gelang es Erdogan, in Qatar einen militärischen Brückenkopf im Golf zu errichten und sich nach einem Jahrhundert der Abwesenheit als Nachfolger der Osmanen in Erinnerung zu bringen.
Auf dem Balkan sind die Türken besonders aktiv. Bulgaristan (Bulgarien), Arnavutluk (Albanien) und Bosna (Bosnien) sieht Erdogan als türkische Protektorate an, in denen es an historische Grundlagen anzuknüpfen gilt. Nicht immer sind die Türken willkommen, ernten Ablehnung und Spott. Dass die türkische und saudische Missionsarbeit in diesen Ländern zu anti-islamischen Reflexen in Ungarn, der Slowakei, Kroatien und Österreich führt, ist ebenfalls historisch begründbar.
Wenn man diese aussenpolitischen Aktivitäten mit Erdogans Reisezielen verknüpft, so ergibt sich daraus ein Weltbild mit der Türkei als Zentrum in einem sunnitischen Commonwealth, dem Dar al-Islam. Vom Ruhrgebiet und Bosnien bis zu den Emiraten und Somalia, von Senegal bis nach Bangladesch, Indonesien und Sinkiang erstreckt sich das Weltreich der Frommen, das es von der Vorherrschaft der Christen zu befreien gilt. Eine herkulische Aufgabe, die einen Gottgesandten erfordert, einen wie Recep Tayyip Erdogan.
"Wenn konservative Islamisten die Macht bekommen, dann endet das auf Dauer zwangsläufig in einer religiösen Diktatur. Zwangsläufig. Denn so steht es in den Schriften. Es geht darum, die Macht zu erobern und eine religiöse Hegemonie zu errichten, alle Andersdenkenden zu bestrafen und wortwörtlich umzusetzen, was vor tausend Jahren im Koran geschrieben wurde. So verstehen sie den Islam, und das ist die Gefahr. Wenn sie nur genug Macht bekommen, dann werden sie dasselbe tun wie der IS." (Ihsan Eliacik im Deutschlandfunk)
Nicht genug Feinde
Ein grosses aussenpolitisches Problem für die AKP ist der Mangel an Feinden. Wenn man von dem Winzling Griechenland absieht, ist die Türkei von Freunden umgeben. Ankara muss sich anstrengen, um Israel und Deutschland als Feinde aufzubauen, damit man innenpolitisch Loyalität einfordern kann. Wenige Monate lang konnte auch Russland als Feind gelten, doch Erdogan musste in Moskau zu Kreuze kriechen, um das von Rosatom zu bauende erste Atomkraftwerk zu bekommen – das er als Plutoniumquelle brauchen wird – und um wieder russische Touristen anzulocken, die er für seine von Europäern gemiedenen Hotels benötigt. Der erste Reaktor soll in Akkuyu 2018 den Betrieb aufnehmen.
Aus Mangel an externen Feinden mussten interne Gegner gefunden werden, gegen die man patriotisch und ruhmvoll kämpfen kann. Neben den Gülenisten eigneten sich vor allem die Kurden. Man war schon fast bei der Aussöhnung angelangt; die Regierung Erdogan verhandelte mit dem gefangenen Kurdenführer Öcalan; dann legte Erdogan aus wahltaktischen Gründen den Rückwärtsgang ein. Seither bemühen sich Militär und Kurdenmiliz PKK gemeinsam, die Dörfer und Städte türkisch-Kurdistans in Schutt und Asche zu legen. Hunderttausende sind obdachlos und auf der Flucht; Erbarmen ist nirgendwo zu sehen, weder bei den Türken, noch bei der kurdischen Terror-Miliz. Eine Tragödie im Hinterhof der Türkei, von der die Welt wenig Notiz nimmt.
Atomrüstung statt NATO?
Angesichts der grossen AKP-Vision von der Führungsrolle im sunnitischen Kosmos schrumpfen Fragen wie das Verhältnis der Türkei zur EU, zu den USA oder der Mitgliedschaft in der NATO zu Petitessen. Die EU ist längst vom erstrebten Ziel zum Feind mutiert; den USA droht man mit Konsequenzen, falls sie Erdogans Intimfeind Fethullah Gülen nicht ausliefern. Die NATO ist nicht mehr unabdingbar: der Erwerb des russischen Raketenabwehrsystems S-400 ist der erste Schritt zur Abkopplung der Türkei von einem westlichen System, das in etlichen sunnitischen Ländern als Bedrohung angesehen wird.
Eine Allianz mit potenten, hochgerüsteten Ländern am Golf, in Zentralasien und mit der Atommacht Pakistan könnte die NATO ersetzen. Auf lange Sicht aber muss die Türkei selbst Atommacht werden. Gute Beziehungen zu Pakistan, Russland und Nordkorea können dabei hilfreich sein. Nur eine Atommacht wird respektiert, das hat Erdogan begriffen. Nordkorea hat gezeigt, wie man sich mit Unverschämtheit der Weltgemeinschaft aufzwingen kann. Und an Unverschämtheit mangelt es der AKP nicht. Die Frage ist nur, ob man schneller in die Atomklasse der Staaten aufsteigt als die Mitbewerber Saudi-Arabien und Ägypten.
Eine kühne Vision, die die AKP-Leute mit Stolz erfüllt und ihnen erlaubt, Kleingeister wie deutsche oder österreichische Politiker mit Verachtung und Spott zu strafen. Zugleich ist man sich aber bewusst, dass der Weg zur Wiedererrichtung einer islamistischen Variante des osmanischen Weltreichs lang ist und viel Vorarbeit erfordert. Einer von ihnen hat schon gezeigt, wie man das angeht: ausgerechnet der Erzfeind Gülen. Mit seinem weltumspannenden System von Schulen, Stiftungen und Wohltätigkeit hat er Enormes für das Ansehen der Türkei geleistet. Hunderttausende sind durch seine Schulen gegangen. Moslems oder nicht: sie haben ein warmes Gefühl für den Prediger, eine Grundkenntnis von Türkisch und eine Beziehung zu dem Land zwischen Europa und Asien behalten.
Sanfte Kulturarbeit
Schade, dass Erdogan jetzt von Staat zu Staat reist und die Regierungen auffordert, die Gülen-Schulen zu schliessen, nicht immer mit Erfolg, wie man hört. Doch während der Boss offiziell gegen Gülen wütet, bereitet die AKP ihre eigene Kampagne nach dem Vorbild Gülens vor. Nicht mehr zufrieden mit dem seit Jahren laufenden, grosszügig finanzierten Programm zum Bau von Moscheen, Koranschulen, Kulturzentren und Entwicklungsinstituten im Ausland hat die Regierung 2016 eine riesige, Steuergelder-finanzierte Bildungs-Stiftung gestartet. Wie der Gülenist Abdullah Bozkurtberichtet, dürfen die Vertreter der Maarif-Stiftung sogar mit Diplomatenpass reisen. Amüsanterweise scheut sich der Islamist Bozkurt nicht, die Chefs der Maarif “der Angehörigkeit fragwürdiger islamistischer Gruppen” zu verdächtigen.
Seit ihrer Gründung versucht Maarif durch eine staatliche Behörde, die Turkish Cooperation and Coordination Agency (TIKA), Gülen-Schulen in zahlreichen Ländern von Pakistan bis Mali zu übernehmen, stösst dabei jedoch auf Mangel an Lehrkräften. Die alten Gülenisten gelten ja nun als Terroristen; neue Lehrer mit geeigneten Sprachkenntnissen kann man nicht aus dem Boden stampfen.
Maarif soll nicht nur in des Predigers Fusstapfen treten. Erdogan hat begriffen, dass sanfte Kulturarbeit nach Art des Hodscha in Pennsylvania unabdingbar ist, wenn man Weltgeltung erlangen will. Die Aufgabe, die Maarif gestellt ist, leidet an einer prinzipiellen Schwäche: es fehlt eine Idee. Gülens erstaunlicher Erfolg wurde ja möglich, weil er eine neue Art von Islam predigte: die Versöhnung des Glaubens mit der Moderne, mit Technik, Wissenschaft und Wirtschaft. Eine Idee, die ihm begeisterte Anhänger brachte. Auch Erdogan wurde von Gülens Predigten beeinflusst. Dass der gütige Alte in Pennsylvania einen Verschwörerorden in der Türkei aufbaute, dass er die Kemalisten im Militär aufs übelste bekämpfte, dass er sicherlich von Machtübernahme und Rückkehr in die Türkei träumte, mag vielen seiner von süssen Sprüchen benebelten Anhängern unbekannt gewesen sein.
Nun soll Maarif das Werk übernehmen, fortsetzen und mit Hilfe der tiefen Taschen der Steuerzahler ausbauen. Die Schüler sollten statt Gülen Erdogan lieben lernen. Doch der ist kein Hodscha, kein verehrbarer Lehrer. Es gibt kein Buch aus seiner Feder, das man studieren könnte. Sein akademischer Abschluss gilt als fragwürdig, möglicherweise als gefälscht. Man darf gespannt sein, wie Maarif dieses Problem umschiffen wird. Vielleicht findet sich ja bei der türkischen Religionsbehörde Diyanet ein halbwegs präsentabler Ersatz-Hodscha, der schon ein Buch geschrieben hat. Es wird allerdings schwierig sein, einen Anderen als Erdogan zu präsentieren, denn ein Personenkult hat sich in Ankara ausgebreitet: AKP-Chargen kleiden sich, geben sich ähnlich wie das grosse Vorbild, sprechen in seinem Stil oder übertreffen ihn darin gar, wie Aussenminister Mevlüt Çavuşoğlu und andere Minister.
Bald 100 Millionen
Mit ihren 80 Millionen Menschen ist die Türkei eine Grossmacht im Nahen Osten. Erdogan drängt sein Volk zu mehr Kindern, um möglichst bald die 100-Millionen-Grenze zu überspringen. Schon heute betrachtet er, ähnlich wie Grossbritannien, die EU als einen Gegner gleichen Kalibers, mit dem man von gleich zu gleich spricht und dem man, falls er nicht spurt, droht. Um die eigene Stärke zu unterstreichen, massiert das türkische Statistikamt offenbar die Wirtschaftszahlen derart, dass statt eines Einbruchs im Gefolge des Putschversuchs von 2016 Wachstum gezeigt wird. Starker Wertverlust der Lira und ein massives Konjunkturprogramm haben die Wirtschaft einerseits angeregt, andererseits aber die Kaufkraft beeinträchtigt
Der natürliche Machtinstinkt eines auf seine kriegerische Tradition stolzen Volkes kombiniert mit einem unbeirrbaren religiösen Herrschafts- und Erlösungsdrang bedroht mehr als nur ein paar griechische Inseln.
Während die langfristige Strategie der AKP und ihres Chefs Erdogan ziemlich klar ist, sind die praktischen Erfolge auf dem internationalen Parkett bislang überschaubar. Trotz des starken Einsatzes an Einfluss und Mitteln ist es der Türkei bisher weder auf dem Balkan, noch unter den arabischen Ländern gelungen, echte Vasallen (ausserhalb des Gaza-Streifens) zu finden. Sprachprobleme und Misstrauen gegenüber dem Neo-Osmanismus behindern die Auslands-Aktivitäten der AKP. Auch schlägt Gülen zurück, dessen Leute über ihre alten Kanäle Zweifel an den Motiven von Maarif & Co säen.
Türkei -- Sammelbecken versprengter Terroristen
Dennoch wäre es falsch, den neuen türkischen Expansionismus und Imperialismus zu unterschätzen. Die Türkei entwickelt sich in den letzten Monaten zu einem Sammelbecken aller versprengten Islamisten und Terroristen, von den heimatlosen Moslembrüdern Ägyptens bis zu den sich an der türkischen Grenze sammelnden Fahnenflüchtigen des Islamischen Staats. Obgleich man wegen der vergangenen Attentate Angst vor den Kämpfern des Daesh hat, bewundert man in der Türkei doch ihren Kampfesmut und ihren religiösen Rigorismus. Sind sie mit Glück und bezahlten Schmugglern durch die stark bewachte Grenze in die Türkei gelangt, finden sie etablierte Strukturen, die sie aufnehmen.
Die neuen Schul-Curricula der AKP-Regierung verdeutlichen, dass der Unterricht ein ganzes Stück in Richtung auf salafistische Vorstellungen rückt. Kreationsidee anstelle von Evolutionslehre und Dschihad anstelle von religiöser Toleranz sollen nun Wissen und Wissenschaft ersetzen. Ziel ist die Heranbildung einer Generation von frommen Unwissenden, die bereit sind, das Erbe der Dschihadisten und Salafisten anzutreten.
Der Vormarsch des Wahhabismus
Gab es einmal einen starken Gegensatz zwischen dem europäisch-türkischen Islam und dem Wahhabismus Saudi-Arabiens und Qatars, so hat sich der Abstand in den letzten Jahren vermindert. Nicht der Wahhabismus hat sich gewandelt: vielemehr hat sich das Islamverständnis in der Türkei und anderen Ländern ein ganzes Stück dem Fanatismus der Wahhabiten angenähert. Die Gründe sind vielfältig: die vorgebliche Rückbesinnung der Dschihadisten in Syrien und dem Irak auf die mittelalterlichen Ursprünge der Religion ist ein Faktor, aber wichtiger noch ist die Dominanz des Wahhabismus im Internet und in den saudisch finanzierten Moscheen und Medressen überall in der Welt. Wenn sich junge Menschen, nicht nur in der Türkei, heute im Internet über den Islam informieren wollen, werden sie unausweichlich mit wahhabitischen und salafistischen Inhalten konfrontiert, die sich unwidersprochen als der einzige und richtige Glauben darbieten.
Es ist also für die Zukunft mit zunehmender religiöser Radikalisierung der türkischen Jugend zu rechnen. Für Deutschland (Almanystan), der Heimat der grössten türkischen und türkisch-stämmigen Auslandsgemeinde, kann dies den Abschied von Jahrzehnten des relativ harmonischen Zusammenlebens der beiden Ethnien bedeuten: im Gegensatz zu den Problemen, die Frankreich und Belgien mit ihren arabisch-stämmigen Minderheiten erleben, konnte sich Deutschland weitgehend ungestörter Integration der Türken erfreuen. Die weitere politische Entwicklung in der Türkei kann ihren Schatten stärker auf Deutschland werfen, als den Deutschen bewusst ist.
Längerfristig wäre eine aus der NATO ausgetretene, aggressiv-islamistische AKP-Türkei ein unangenehmer, bedrohlicher Nachbar, mit oder ohne Atomrüstung. Während die arabische Diaspora in Frankreich und Belgien weitgehend amorph und "heimatlos" ist, ist die türkische Diaspora stark auf ein einziges Land bezogen, nämlich die Türkei. Dass Ankara die engen Bande skrupellos nutzt, zeigt sich in diesen Tagen*). Ein Netz der Überwachung durch angeblich tausende Spione in Deutschland sorgt für Angst bei allen, die einen türkischen Hintergrund aufweisen. Familie oder auch nur ein Ferienhaus oder ein Erbanspruch in der Türkei können von den Behörden als Druckmittel genutzt werden. Reisen in die alte Heimat sind zu einem va banque-Spiel geworden.
Kaum auszudenken, wie Ankara im Falle eines echten Konflikts seine Macht in Deutschland ausspielen könnte.
Wenn Nordkorea in hoffentlich naher Zukunft in die Staatengemeinschaft aufgenommen ist und seinen Zerstörungsfantasien abgeschworen hat, bleibt die Rolle der Türkei offen. Sollten die Islamisten -- wie einst die Kemalisten -- ein Jahrhundert lang in Ankara herrschen, so ist mit üblen Überraschungen in Serie zu rechnen. Der natürliche Machtinstinkt eines auf seine kriegerische Tradition stolzen Volkes kombiniert mit einem unbeirrbaren religiösen Herrschafts- und Erlösungsdrang bedroht mehr als nur ein paar griechische Inseln.
Ihsan al-Tawil
*) An Internet television channel called Z-23, which will promote Turkish President Recep Tayyip Erdoğan and the Justice and Development Party (AKP) in Germany, is to be established with help from the Turkish Embassy in Berlin, the artigerçek news website reported on Friday. According to the report the embassy’s press counselor, Refik Soğukoğlu, is helping to establish the channel, which will target German politicians and support Erdoğan’s views.
Hayrettin Karaman, a leading theologian and issuer of fatwas, or religious edicts, for ruling Justice and Development Party (AKP) circles and Turkish President Recep Tayyip Erdoğan, said in a column on Sunday that there will be one state of all Muslims and that non-Muslims will pay additional taxes to live in the same state.
According to Karaman, the single Muslim state will be established when conditions are right. Underlining that more than one Muslim state exists today out of necessity, Karaman said: “I am repeating my thoughts that those who try to divide the ummah [Muslims] by creating independent states by means of gathering religious evidence are on the wrong path.”
Karaman said in a column on Aug. 18 that Turkey needs to have nuclear power and work on achieving Muslim unity and friendship.
Explaining to what extent and under what conditions Muslims should befriend non-Muslims, Karaman said: “Peace should be preferred, but one also has to have a deterrent force for defense and to fight against violence. [I am insisting that this power in our day is nuclear and that we should have it. Having this power is not to use it violently, but to ensure a power balance, for defense and deterrence.] … I am not saying we should be North Korea, I am saying ‘Keeping in mind the divine warnings and being cautious, let’s work on Muslim friendship and unity in the long term, if not now’.”
Karaman, a well-respected figure among political Islamist groups in Turkey and regarded in high esteem by Erdoğan, frequently makes controversial statements in the name of Islam that favor Erdoğan and the AKP government.
Karaman zufolge wird der einheitliche muslimische Staat gegründet werden, wenn die Bedingungen stimmen. Karaman betonte, dass es heute mehr als einen muslimischen Staat gibt, und zwar aus der Notwendigkeit heraus: "Ich wiederhole meine Gedanken, dass diejenigen, die versuchen, die Ummah [Muslime] durch die Schaffung unabhängiger Staaten zu spalten, indem sie religiöse Beweise sammeln, auf dem falschen Weg sind."
Karaman sagte in einer Kolumne am 18. August, dass die Türkei über eine Atommacht verfügen und an der Erreichung der muslimischen Einheit und Freundschaft arbeiten müsse.
Bei der Erläuterung, inwieweit und unter welchen Bedingungen Muslime mit Nicht-Muslimen befreundet sein sollten, sagte Karaman: "Der Frieden ist zu bevorzugen, aber man muss auch über eine Abschreckungsmacht zur Verteidigung und zum Kampf gegen Gewalt verfügen. [Ich bestehe darauf, dass diese Macht in unserer Zeit nuklear ist und dass wir sie haben sollten. Diese Macht zu haben bedeutet nicht, sie gewaltsam einzusetzen, sondern ein Machtgleichgewicht zu gewährleisten, zur Verteidigung und Abschreckung]. ... Ich sage nicht, dass wir wie Nordkorea sein sollten, sondern ich sage: 'Lasst uns unter Berücksichtigung der göttlichen Warnungen und mit Vorsicht an der muslimischen Freundschaft und Einheit auf lange Sicht arbeiten, wenn nicht jetzt'."
Karaman, der bei politischen islamistischen Gruppen in der Türkei hohes Ansehen genießt und von Erdoğan sehr geschätzt wird, gibt häufig kontroverse Erklärungen im Namen des Islam ab, die Erdoğan und die AKP-Regierung begünstigen.
Jürgen Pechel und ich waren die ersten deutschen Journalisten, denen es 1961 gelang, die Staaten und Scheichtümer am Persischen Golf zu bereisen, einschliesslich jener verschlossenen britischen Protektorate, die zur Piratenküste gezählt wurden. Fast sechzig Jahre später zeigen meine damaligen Berichte manches unterhaltsame Detail.
Am Dienstag, den 25. Oktober 1960 wurde die Welt in wenigen dürren Worten von der Tatsache in Kenntnis gesetzt, dass tags zuvor der Herrscher des winzigen Erdölstaates Qatar im Persischen Golf abgedankt habe. Seine Hoheit, Scheich Ali bin Abdullah al Thani, ist zurückgetreten zugunsten seines Sohnes Scheich Ahmed bin Ali.
Der Rücktritt Scheich Alis kommt nicht unerwartet. 1949 war Ali durch eine Palastrevolte und einen kleinen Bürgerkrieg an die Macht gelangt. Sein Vater, Scheich Abdullah bin Qasim, hatte die Tendenz gezeigt, das eben anlaufende Einkommen aus der Petroleumförderung ungeteilt in seine eigene Tasche zu stecken - wogegen sich seine Familie empörte. Ali erhob darauf- hin seinen Vater zwangsweise in den Ruhestand.
Doch das ironische Schicksal wollte es, dass Ali elf Jahre später wiederum aus denselben Grund abdanken musste. Der Herrscher aller achtzehntausend Qataris hat im vergangenen und einzigen Jahrzehnt seiner Herrschaft zwisehen fünfhundert und siebenhundertfünfzig Millionen Mark für sich und seinen engsten Anhang ausgegeben. Sein irdischer Besitz beläuft sich auf einige Dutzend Frauen, eine unbekannte Zahl von Kindern, zweihundert Autos meist amerikanischer Provenienz, zwei indische Elefanten, eine vom König von Saudi-Arabien geschenkte Motoryacht samt italienischer Besatzung und einem überdimensionalen Freiluftgrill für ganze Hammel; und einer stattlichen Sammlung von Palästen und einer Villa bei Genf. Letztes Jahr gab Scheich Ali in der Schweiz angeblich mehr Geld aus als eine mittlere Aussenministerkonferenz kostet. Die lebenden Hammel und die Gäste für seine opulenten Diners liess er nach Bedarf aus dem Persischen Golf in gecharterten Viscount-Maschinen einfliegen.
Noch in Frühjahr dieses Jahres war Scheich Ali so verschuldet, dass er seinen Domestiken keine Gehälter zahlen konnte. Der Handel in Qatar lag aus Geldmangel darnieder und offen tat man allerseits seinen Unwillen über Alis fehlplazierte Verschwendungssucht kund. Nach der grauen Theorie eines von britischen Beratern ersonnenen Staatshaushalts sollte Ali nur ein Viertel, maximal ein Drittel der Ölgelder für sich verbrauchen. Der gute, graubärtige Ali, dem alle tieferen politischen Gedankengänge und vor allem die Kunst des Rechnens ein Greuel waren, lebte munter drauflos in der Annahme, dass die Öleinnahmen schneller wachsen als sein Talent, das Geld unter die Leute zu bringen.
Darin täuschte er sich leider, denn Qatars Ölproduktion, die 1959 8,7 Millionen Tonnen erreichte, lässt sich nach Mitteilung der Qatar Petroleum Company unter den jetzigen Marktverhältnissen nicht mehr steigern. Damit war Alis Verständnislosigkeit für die kameralistischen Rechenkünste seiner britischen Berater nicht mehr tragbar: er musste abtreten. Doch ob das Übel damit behoben ist, scheint mehr als fraglich. Sein Sohn und Nachfolger Ahmed scheint nicht minder begabt im Geldausgeben zu sein. Seiıem nur hundertfünfzig Autos zählenden Rennstall fügte er kürzlich um 45000 Mark einen Ferrari "Anericano" mit zwölf Zylindern bei. In Frühsommer dieses Jahres wurde er von seinem Vater auf eine diplomatische Fernostreise geschickt. Bereits in Indien hatte er aber die 200.000 Mark Wegzehrung aufgezehrt und musste einen neuen Scheck von daheim anfordern. Der Rücktritt Scheich Alis hat noch einen anderen Hintergrund.
Durch die geregelte Übergabe der Regierungsgeschäfte an Ahmed konnte verhindert werden, dass ein anderer Thronprätendent, Ahmeds Onkel Khalifa bin Qasim al Thani, seinen Ansprüchen gewaltsam Geltung verschaffte. Khalifa, der einflussreiche Polizei- und Sicherheitsminister Qatars, ist der Sohn eines ehemaligen Thronfolgers, der jedoch vor Erreichung seines Zieles plötzlich, und wie man sagt einen natürlichen Todes, starb. So ist Khalifa - den man anstandshalber zum neuen Thronfolger proklamierte - der Benachteiligte. Selbst die britischen Schutzherren Qatars rühmen Khalifa Intelligenz und staatsmännische Talente nach - womit sie wahrscheinlich sein Talent zur Sparsamkeit meinen. Jedenfalls gilt Khalifa als ein Anhänger unpassend moderner Ideen und als ein Bewunderer des ägyptischen Präsidenten Nasser.
Im aussenpolitischen Intrigenspiel um Qatar ist Khalifa die wichtigste Figur, und es wäre nicht verwunderlich, wenn er sein Thronfolgerecht auf Kosten Ahmeds und dessen britischen Beschützern vorzeitig wahrnehmen würde. Qatars Ölmillionen sind kein schlechter Anreiz, wenn man bedenkt, wie es auf dieser zehntausend Quadratkilometer grossen Halbinsel noch vor wenigen Jahrzehnten aussah.
"Niemand ausser den wandernden Beduinen würde auf der Halbinsel Qatar leben wollen, gäbe es dort kein Öl. Dieses daumenförmige, zehntausend Quadratkilometer grosse Stück Land ist selbst für Arabien aussergewöhnlich unfruchtbar. Im Sommer vereinigt das Wetter die Feuchtigkeit des Persischen Golfes mit der brennenden Hitze der Wüste..." So berichtet der amerikanische Arabien-Schriftsteller Richard Senger über den merkwürdigen Staat Qatar, von dessen Existenz noch vor wenigen Jahren nur ein paar Fachgelehrte wussten.
1915 landeten britische Truppen auf Qatar und verhafteten eine spärliche türkische Garnison, einen der entferntesten Aussenposten des grossen osmanischen Reiches. Bereits 1920 aber hatte das Foreign Office in London vergessen, dass Qatar ein britisches Protektorat war, denn im "Handbuch für den Persischen Golf" war zu lesen, dass Qatar unter der Herrschaft von Ibn Saud, dem späteren König von Saudi-Arabien, stehe. Niemand kümmerte sich um die paar tausend halbverhungerten Perltaucher und Fischer, die an den Küsten dieses trostlosen Zipfels steiniger Wüste lebten. So konnte es geschehen, dass Qatar zeitweise vier Herren gleichzeitig unterstand, ohne dass einer den anderen störte. Die Qataris zahlten Tribut an den Scheich der benachbarten Inselgruppe Bahrain. Bahrain wiederum zahlte Tribut an Ibn Saud, damit dieser seinen Anspruch auf Oberhoheit über Qatar nicht wahrnahm. Die Türken betrachteten Qatar als einen Teil des Vilayets Bagdad. Die Briten schliesslich sahen Qatar als einen Bestandteil ihres Protektorats Bahrain an.
Die Qataris selbst kümmerten sich um keinen dieser Herren,sondern lebten munter in Stammesfehden und Blutrache, trieben ein wenig Schmuggel und wagten gelegentlich einen kleinen Raubüberfall auf benachbarte Küsten oder eine Kaperfahrt. Ein habgieriger Häuptling namens Abdallah al Thani hatte sich vom Tributeinnehmer zu einer Art oberstem Scheich der Halbinsel aufgeschwungen. In einem frühgotisch anmutenden Lehmpalast lebte er von den Vorschüssen seiner Kaufleute. Morgens ging er mit seinen Bürgern hinunter zum Ufer des Golfes um sich zu waschen, denn es gab kein Waschbecken und keine Toilette in seiner Residenz Doha. Wozu auch, war doch das wenige brackige Süsswasser so knapp, dass man es nur zum Trinken nahm.
Doha selbst war ein hinter Korallenriffen verstecktes Hafendorf, das sich mit halbzerfallenen Lehmmauern gegen den Gluthauch der Sandstürme schützte. Sehr braunhäutige Gestalten in ausgefransten Hemden undefinierbarer Farbe trabten auf Eseln durch den ärmlichen Markt, den Suq, wo man Salzschollen auf selbstgemachten Waagschalen mit einem Felsbrocken als Gewicht abwog. Wie Doha damals, so sehen heute noch die Städtchen der benachbarten Piratenküste aus.
Doha aber ist heute eine einzige grosse Baustelle. Bulldozer, Presslufthämmer und Betonmischmaschinen haben den Ort so verwandelt, dass er aussieht wie ein Erdbebenzentrum bei den Aufräumungsarbeiten. Kilometerlange Mäuerchen ziehen sich wie ein unregelmässiges Schachbrettmuster in die Wüstenumgebung und verraten Bodenspekulation. Zwei- und vierbahnige Asphaltstrassen durohschneiden ein Gewirr grellfarbiger Geschäftshäuser und Bungalows. Von dem Rumeilah-Hügel grüsst der grosse neue Palast mit seinem kupfergrünen Dach, das an die zartgeschwungenen Formen buddhistischer Klöster erinnert. Durch die Strassen presst sich eine Schlange der grössten und teuersten Autos, die es auf der Welt zu kaufen gibt. Nur die Menschen sind die gleichen geblieben - ihre Hemden allerdings sind nicht mehr ausgefranst und so weiss wie eine Waschmittelreklame.
Doha gestern - Doha heute: der Unterschied heisst einfach Erdöl. Vor zehn Jahren lief die Petroleumproduktion Qatars in grossem Stil an. Heute sind bereits fünfzig Millionen Tonnen exportiert worden und das Land verdiente daran etwa eineinhalb Milliarden Mark, wenn man die verschiedenen Konzessionsgebühren mitrechnet. Im vergangenen Jahr beliefen sich die Einnahmen aus dem Ölgeschäft auf rund eine Viertelmilliarde Mark. Man darf danach vermuten, dass auf die 18000 gebürtigen Qataris ein Volkseinkommen pro Kopf entfällt, das gegenwärtig das höchste der Welt ist. Mittlerweile haben sie allerdings zur Bewältigung dieses Einkommens über zwanzigtausend Ausländer ins Land geholt: Omanis, Saudi-Araber, Bahreinis, Perser, Somalis und Briten.
Der Fremde wundert sich, dass die Qataris, nachdem sie reich genug sind, um sich an irgendeinem schöneren Fleck der arabisch sprechenden Länder niederzulassen, dennoch weiterhin auf ihrer unwirtlichen Halbinsel bleiben. Welch ein Aufwand an Klimaanlagen, Süsswasserdestillen und ähnlichen Investitionen ist notwendig, um das Leben auf Qatar erträglich zu machen. Das kleine Scheichtum dürfte der einzige Staat der Welt ohne eigene Landwirtschaft sein. Ausser Öl wird praktisch nichts mehr erzeugt. Und das Ölgeld geht durch die Hände der Dynastie al Thani, deren rund zweihundert Mitglieder ein Mindesteinkommen von monatlich 4500 Mark beziehen.
Es berührt den Besucher sehr sympathisch, wenn er sieht, dass die Qataris trotz der wirtschaftlichen Monopolstellung der Scheichsfamilie kein devotes Volk von Hofschranzen geworden sind. Wenn ihnen das Gebaren ihres Herrschers missfällt, besuchen sie ihn in seiner Residenz, reden ihn mit "Ali" oder "Ahmed" an, und tun ihren Unmut offen kund.
Die Briten dagegen, für die die Scheichs vor wenigen Jahren noch irgendwelche dubiosen Beduinenhäuptlinge waren, reden den "Herrscher" nun mit "Hoheit" an, verleihen ihm unverständliche Ehrentitel, die abgekürzt hinter dem Namen zu führen sind, und laden ihn gar an den Londoner Hof ein. Wie ungebildet und verschwenderisch ein "Herrscher" auch sein mag, die britisch geleitete Qatar Petroleum Company schreibt über ihn: "Die allgemeine Hebung des Lebensstandards in Qatar verdankt man der Weisheit, mit der Seine Hoheit, der Herrscher, die Öleinnahmen für das Wohl seines Volkes verwendet."
Nur wenigen Fremden wird ein Blick auf Qatar gestattet. Die Wenigen,die hereinkommen, machen meistens nach einem kurzen Besuch in Doha kehrt und fliegen in wirtlichere Gegenden. Bisher konnte man nur bei den beiden sehr gastfreundlichen Ge-sellschaften QPC und Shell unterkommen. Doch neuerdings hat ein lokaler Kaufmann ein Hotel gebaut, in dem die Übernachtung mit Frühstück nur 110 Mark kostet...
So sehr sich Qatar auch isoliert, das Öl hat doch ein Reihe neuer Einflüsse ins Land gebracht, dessen Auswirkungen dem Scheich recht unliebsam sind. Manche der 22000 Einwanderer haben es durch Fleiss und bessere Vorbildung zu kleinen Vermögen gebracht, namentlich die Perser und Palästinenser. Sie sehen in der Herrschaft der Scheiehs das Haupthindernis für ihre staatsbürgerliche Gleichberechtigung. Die jungen Qataris andererseits erkennen am Beispiel der Einwanderer den wirtschaftlichen Vorteil besserer Ausbildung. Die Regierung hat zwar in den vergangenen Jahren genügend Schulen geschaffen. Der Unterricht folgt aber dem religiösen Prinzip der Koranschule.
Wie die Saudi-Araber, Kuweitis und Bahreinis sind auch die Qataris Anhänger der streng islamischen Sekte der Unitarier oder Wahabis. Die Ulemas oder Schriftgelehrten dieser orthodoxen Glaubensrichtung sehen den Koran nach wie vor als die Quelle alles irdischen Wissens. Um den etwas unmodernen Ausbildungsstand ihrer qatarischan Angestellten zu heben, wollte die Ölgesellschaft QPC Elementarunterricht in Arabisch geben. Dies wurde ihr prompt vom Scheich untersagt.
Seither darf sie technische Ausbildung nur noch in Englisch erteilen. So darf sich der Scheich nicht wundern, wenn die neuen Schulen schlecht besetzt sind. Er muss den Schülern Gehälter bis zu 120 Mark in Monat zahlen, damit sie überhaupt in seine Schulen gehen. Um diese Schulen eröffnen zu können, wurden ägyptische und palästinensische Lehrer ins Land geholt, denen es natürlich ein besonderes Vergnügen ist, ausser dem Koran auch noch andere Schriften zu lehren: beispielsweise die von der heranwachsenden Jugend aller arabisch sprechenden Länder heiss verschlungenen Kurzgeschichten von Ihsan Abdel Kaddous, dem politischen Hofpoeten der Offiziersregierung in Kairo. Behutsam wird auch im fernen Qatar der Jugend jener revolutionär-panarabistische Samen in Herz gestreut, der in Ägypten, Syrien und im Irak schon so unerwartete Früchte getragen hat.
Der Isolationismus Qatars kann zu einen Bumerang werden. Im vergleichsweise weltoffenen Kuweit und Bahrein hat ein grosser Teil der jungen Generation erkannt, dass die britische Protektoratsherrschaft politischen Schutz und administrative Vorteile mit sich bringt. Die jungen Qataris jedoch fragen, ob die Absperrung nach aussen ihr Land nicht zu einem gehüteten Geheimkämmerchen Grossbritanniens macht.
Bis vor kurzem war Qatar viel zu beschäftigt, seinen neuen Reichtum zu verwerten. Doch wenn - wahrscheinlich schon in diesem Jahr- die Öleinnahmen nicht mehr wachsen, dann kommt Zeit zum Nachdenken. Unabhängige Staaten wie der Irak, Saudi-Arabien und Persien sind entschlossen, durch fortschreitende 'Integration' die Monopolmacht ihrer Ölgesellschaften zu brechen. Geben die Briten und die QPC nicht freiwillig ähnliche Zugeständnisse, dann könnte in Qatar - von aussen unterstützt - Unruhe entstehen.